Kapitel 24

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Ich verstehe nichts mehr. Der Wache sagt, dass ich nicht an die Mauer darf, doch die Worte wollen nicht zu mir durchdringen.
"Wieso?", frage ich den Mann, der genervt die Arme in die Seite stemmt.
"Schon einmal was von Nachrichten gehört?"
"Schon einmal was von Antworten gehört?", frage ich zurück und verschränke die Arme vor der Brust.
"Na schön. Eigentlich stehe ich nicht auf freche Mädchen, aber dir sage ich es trotzdem."
Der Mann holt kurz Luft.
"Wachen sind verschwunden. Einfach so an der Mauer. Über zwanzig mittlerweile, weshalb man nicht von Selbstmord ausgeht. Man weiß noch nicht, was passiert ist, deshalb wurde allen, dich eingeschlossen, verboten, sich der Mauer auch nur weniger als zehn Meter zu nähern."
Ich schaue auf die Seite und brauche ein paar Sekunden, bis ich verstehe, was er da gerade gesagt hat.
"Aber-"
"Nein, kein aber! Ich muss meinen Job machen und du gehst jetzt weg. Wenn ich dich noch einmal an der Mauer erwische, dann gibts Ärger, ist das klar?"
Ich verdrehe die Augen.
"Selbstverständlich, Sir."
Mit einem Grinsen auf dem Gesicht laufe ich an dem Wachen in Richtung Stadt vorbei.

"Grace!"
Mit einem Lächeln macht Lukas die Tür auf.
"Hey, darf ich reinkommen?"
Lukas macht die Tür mit einer einladenden Geste auf.
"Aber natürlich, Mademoiselle."
Ich lächle kurz, laufe an ihm vorbei ins Haus und direkt weiter in sein Zimmer, da ich keine Lust habe jetzt mit seinen Eltern sprechen zu müssen.
Ich setze mich auf sein Bett, während Lukas sich einen Stuhl nimmt und sich mir gegenüber hin setzt.
"Was ist los?", fragt Lukas besorgt, mustert mich aufmerksam.
Ich schaue von meinen Schuhen auf.
Soll ich ihm alles erzählen? Dass mein Vater Selbstmord begehen will und dass ich einen Idioten kennen gelernt habe? Was Liam angeht, weiß ich nicht, was ich erzählen soll und was nicht. Ich würde so gerne jemandem von Liam erzählen, aber es müsste jemand sein, der nicht gleich austickt, weil Liam ein 'Normaler' ist.
Steven. Ja, Steven könnte ich das erzählen. Dann höre ich auch mal wieder was von ihm.

Ich schaue in Lukas blaue Augen, die mich an das Meer erinnern. Und ganz ungewollt kommt dann auch noch zu der Liste 'Themen, über die ich gerne mal mit jemandem sprechen würde' meine beschissene Gabe dazu. Die hatte ich ganz vergessen.
Verzweifelt stütze ich meinen Kopf in die Hände. Was soll ich bloß machen?
Lukas greift nach meinen Händen und nimmt sie in seine.
"Grace, was ist? Erzähl es mir. Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht."
Nicht gut? Das ist vollkommen untertrieben! Der sollte froh sein, dass ich noch nicht Selbstmord begangen habe.
Selbstmord ist keine Lösung für meine Probleme. Daran sollte ich nicht mal denken.
"Ich...ich weiß nicht, was ..."
Was will ich eigentlich sagen?
Erzähle ich über Punkt 1 der Liste, also über meinen Vater, der Selbstmord begehen will, dann kommt er in eine Psychiatrie und ich zu Verwandten oder wohin auch immer.
Punkt 2 ist Liam. Ungünstig, wenn ich Lukas von einem anderen Jungen erzähle. Das habe ich schon einmal gemacht. Als Folge hat der Junge nie wieder mit mir gesprochen. Ich will gar nicht wissen, was Lukas mit ihm gemacht hat, aber wenn er einen Konkurrenten in einem anderen Jungen sieht, dann ist er gnadenlos. Ich kann mir nicht leisten, Liam zu verlieren. Wenn ich bei ihm bin vergesse ich meine Probleme. Man, wie macht Liam das? Ich brauche mehr von diesem Medikament. Wie auch immer, Punkt 2 ist vorerst gestrichen.

Dann bleibt nur noch meine Gabe und wenn ich es so sehe, ist diese noch mein kleinstes Problem.
Kurzgefasst, ich kann eigentlich wieder gehen. Mit Lukas kann ich über kein Thema der Liste reden.
Ich hebe meinen Kopf und schaue in seine Augen.
"Ich... tut mir leid. Ich wollte nicht stören. Ich muss jetzt eh nach Hause", plappere ich einfach so drauf los und stehe auf.
Lukas schaut mich verwirrt an.
"Nein. Komm, Grace, ich will dir helfen. Setz dich wieder hin und wir reden darüber", schlägt er mir vor.
Ich schüttele den Kopf und verlasse, ohne auf Lukas direkt hinter mir zu achten, das Haus.

Lange laufe ich durch verschiedene Straßen, bis ich an den Häusern erkenne, dass ich bei den 'Normalen' angekommen bin. Was mache ich hier?
Tief in mir drinnen weiß ich die Antwort. Aber kann ich sie rauslassen? Kann ich wirklich sagen, dass ich ihn brauche? Dass ich wegen ihm gerade hier bin?
Vielleicht ist es ja so. Vielleicht ist Liam gerade noch der einzige, der mir Halt gibt. Verrückt, wenn ich ihn dann Idiot nenne. Obwohl, das ist er doch auch.
Ich setze mich auf eine Bank und betrachte das Haus gegenüber.
Ganz langsam wird es dunkel. Ich wusste gar nicht, dass es schon so spät ist.
Die Lichter in den Häusern werden angemacht, während die Finsternis mich einhüllt.
Ich ziehe die Jacke enger um mich und schließe die Augen. Wie gerne hätte ich ihn jetzt neben mir. Er würde mich von meinen Problemen und verwirrten Gedanken wegbringen und mir nebenbei noch das eine oder andere Lächeln auf die Lippen zaubern.
Aber er wird nicht kommen. Woher soll er auch wissen, dass ich ihn brauche? Dass ich gerade hier sitze und ihn zu mir wünsche?
Ich atme einmal aus. So hätte ich vor wenigen Tagen noch nicht gedacht. Ich hätte ihn bloß für nervend empfunden. Ich hätte mir gewünscht, dass ich ihn nie wiedersehe und jetzt? Totale Widersprüche.

Ich bleibe noch eine ganze Stunde auf der Bank sitzen und friere wie verrückt, aber die Hoffnung, dass Liam kommt, hat mich dort wie fest angewurzelt.
Jetzt erhebe ich mich und laufe ganz langsam und mit von Tränen nassen Wangen zurück nach Hause.
Kaum habe ich die Haustür aufgeschlossen, merke ich, dass etwas nicht stimmt.
Alles sieht aus wie immer und es mag jetzt wirklich verrückt klingen, aber ich spüre es. Es liegt in der Luft. Irgendetwas stimmt hier ganz und gar nicht.

Ich laufe auf die Badezimmertür zu, durch die unten ein kleiner Lichtschein dringt und das einzige Licht im ganzen Haus scheint.
Ich atme einmal kräftig ein, bevor meine Hand die eiskalte Türklinge runterdrückt und die Tür aufstößt.
Ein selbst mir fremder Schrei verlässt meinen Mund. Ein Schrei, der aus meinem Innersten kommt und so furchtbar klingt, dass er bestens zu dem Bild passt, das sich vor mir ergibt.
Aber es ist nicht nur ein Bild. Nein, es ist die reinste Realität.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now