Kapitel 26

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Ich war noch nie in einem Haus der 'Normalen'. Klar, ich habe sie oft von außen gesehen, aber in einem der Häuser war ich noch nie.
Eigentlich sind sie so ähnlich wie unsere Häuser, nur etwas kleiner und mit günstigeren Möbeln ausgestattet. Dafür einen großen Garten, wo wir 'Reichen' einen großen Pool haben. Naja, die meisten zumindest.
Kaum betrete ich Liams Zimmer, steigt mir sein Geruch noch verstärkter entgegen. Aber ich kann mich nicht beschweren, da ich diesen Duft liebe.

Ich habe die komische Angewohnheit, überall wo ich bin, mich wie zu Hause zu fühlen. Kein Wunder, dass ich mich dann einfach auf sein Bett setze, obwohl ich noch nie hier war.
"Also?", fragt Liam und irgendwie habe ich das Gefühl, dass seine grünen Augen noch mehr glänzen.
"Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll", gebe ich zu.
"Na, als ich dir zum ersten Mal begegnet bin, hattest du noch keine Probleme. Also fang einfach mal irgendwo an."
Stimmt, vor ein paar Tagen war noch alles gut und total normal. Aber jetzt merke ich, wie schnell sich das ändern kann. Meine ganze Welt wurde einfach auf den Kopf gestellt.
"Ich habe meine Gabe entdeckt", sage ich leise und schaue auf meine Hände, während Liam eine Augenbraue hochzieht.
"Gut, das ist noch was Tolles. Welche denn?"
"Da hört das Tolle auch schon auf. Wasser."
Liam lacht.
"Nein, da fängt das Tolle erst richtig an. Du musst dir mal überlegen, was für eine enorme Kraft in dir steckt. Eines der vier Elemente. Wer will das denn nicht?"
"Ich.", sage ich nur knapp.
"Wir können gerne tauschen", schlägt Liam vor.
"Was hast denn eigentlich du?", frage ich neugierig.
"Unwichtig", winkt er ab. " Ich will nur wissen, warum es dir nicht gut geht."
Ich verdrehe die Augen.
"Ich kann dich auch trainieren. Extra-Gaben Training", sagt Liam und grinst.
"Wozu gibt es Gabenunterricht?"
"Mal ganz ehrlich, wer lernt da etwas? Die Gaben werden ja nicht angewendet. Das ist nur langweiliges Geplapper vom Lehrer. Seine Gabe kontrollieren zu können ist nicht einfach, vor allem, wenn man sich alles selber beibringen muss. Und deshalb helfe ich dir. Keine Widerrede."
Ich schlucke. Soll und kann ich das annehmen?
"Ich..."
"Ich habe gesagt keine Widerrede", unterbricht mich Liam. "Was gibts noch?"
"Meine... Mum ist gestorben", sage ich leise.
"Oh, das tut mir leid", sagt Liam und senkt den Kopf.

Warum sagt man das immer, wenn es einem eh nicht leid tut? 'Das habe ich dir schon oft gesagt. Um sein Mitleid auszudrücken.', sagt die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf und erinnert mich an den Abend im Park, als wir beide über solche Sachen geredet haben.
Ich seufze leise. Wir gerne würde ich die Zeit zurückdrehen.
Liam greift nach meiner Hand, was ich sogar mal zulasse.
Sofort schießt ein Blitz durch meinen Körper und ich ziehe erschrocken meine Hand zurück.
Liam scheint nichts von dem Blitz bemerkt zu haben.
"Tschuldigung", murmelt er und zieht seine Hand wieder zu sich.
"Seit dem will sich mein Vater umbringen", lenke ich unser Gespräch wieder auf meine Probleme und Themen, über die ich solange schon mit ihm reden wollte.
Liam schaut auf den Boden, was mich dazu veranlasst, dass ich weiterrede.
"Ich bin gestern nach Hause gekommen und dann ... lag er im Badezimmer und überall um ihm herum nur Blut."
Ich blinzele die Tränen weg, kann sie aber nicht alle zurückhalten. Eine einzelne erarbeitet sich einen Weg über meine Wange.
Liam schaut mich an und hebt die Hand, um mir die Träne wegzuwischen, aber lässt sie wieder sinken.
"Und jetzt?", fragt er und schaut auf die Seite.
Irgendwie habe ich das Gefühl, dass er sich unwohl fühlt, da er meinem Blick geschickt ausweicht.
"Er lebt."
"Nein, ich meine dich. Was willst du machen?", fragt Liam und schaut mich endlich an. Irgendwie sehe ich Traurigkeit in seinen Augen, die schlagartig ihren Glanz verloren haben. Echt gruslig.
"Ich habe Angst, dass mein Dad jetzt in eine Psychiatrie kommt und ich in ein Waisenhaus oder so. Aber das wird sich nicht vermeiden lassen, wenn die Polizei jetzt eingeschaltet ist."
Liam grinst wieder, auch wenn das gar nicht lustig ist.
"Ich hätte nicht Hilfe holen dürfen", seufze ich und schließe die Augen.
"Doch. Du hast alles richtig gemacht. Sonst wäre dein Vater vielleicht nicht mehr am Leben."
Da hat er leider Recht.
Ich öffne die Augen und schaue in Liams.
"Ohne professionelle Hilfe wäre er wahrscheinlich gestorben", fügt er hinzu.
"Woher willst du das wissen?", frage ich und mache mir unendliche Vorwürfe, dass es vermutlich auch ohne Hilfe geklappt hätte. Dann hätten wir nicht die Polizei am Hals.
"Das wird schon."
Ehe ich etwas sagen kann, hat Liam mich in seine Arme gezogen und drückt mich an sich.

Überrascht bin ich zuerst ganz versteift, aber als Liam seine Arme um mich legt, eine Hand in meinen Haaren vergräbt und meinen Kopf an seine Brust legt, so dass ich seinen Herzschlag hören kann, entspanne ich mich ein wenig.
Ganz vorsichtig lege ich meine Hände auf seinen Rücken und schließe die Augen.
Ein paar Sekunden lausche ich seinem schnellem Herzschlag.

Eigentlich kenne ich ihn kaum, aber trotzdem schafft er es mir Geborgenheit zu geben und das Gefühl, dass noch nicht alles verloren ist, egal, wie extrem mein Leben schon zerstört ist.
"Liam?", frage ich.
"Was ist?"
Ich atme einmal tief ein und überlege mir gut meine nächsten Worte.
"Warum hilfst du mir?"
Ich löse mich aus der Umarmung und klettere wieder auf das Bett, wobei ich zwei Meter Abstand zwischen uns bringe.
Liam lässt die Arme sinken.
"Ich weiß nicht, wie du das als Hilfe bezeichnen kannst."
Ich verdrehe die Augen.
"Ich wollte schon seit Tagen mit jemandem reden. Anscheinend weißt du nicht, was für eine tolle Hilfe du für mich bist", gebe ich zu und senke den Blick, weil mich Liams Blick zu durchbohren scheint.
"Na gut. Aber eine Lösung haben wir trotzdem noch nicht."
Stimmt, das wäre nicht schlecht.
"Was würdest du machen?", frage ich und ziehe meine Knie an mich und umschlinge meine Beine mit den Armen.
"Ich würde abwarten, aber so wie ich dich kenne, dürfte das schwer werden."
Ich grinse. Ja, Geduld ist eine meiner Schwächen.
"Ich weiß nicht, ob ich so lange warten kann."

Liam lacht.
"Natürlich schaffst du das. Du bist vielleicht nicht geduldig, dafür aber willensstark und zielstrebig."
Ich stehe auf, weil ich gerade sehe, dass es schon spät ist und ich dringend nach Hause sollte, falls ein Anruf aus dem Krankenhaus kommt.
"Ich muss mal gehen", sage ich und zeige auf die Uhr.
Liam dreht sich um und wirft selbst einen Blick drauf.
"Na gut."
Er steht auf und läuft zur Haustür.
Mit einem Grinsen hält er sie mir auf, so dass ich ins Freie trete und kalte Luft mich einhüllt.
"Grace?"
Ich drehe mich um.
"Du kannst immer hierher kommen."
Ich lächle.
"Danke, Idiot."
Liam verdreht die Augen und lehnt sich mit vor der Brust verschränkten Armen an den Türrahmen.
"Ich meine es ernst. Und du kommst auch fürs Gabentraining hierher."
"Bestimmt." Nicht. Aber so schlimm ist Liam gar nicht. Naja, vielleicht.
"Du lügst", sagt Liam und schaut mich gespielt böse an.
"Okay, ich komme vielleicht."
Bevor Liam noch etwas sagen kann, drehe ich mich um und laufe durch den Vorgarten direkt nach Hause.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now