Kapitel 51

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Lukas ist schon fast bei mir, als Renée ihm den Weg versperrt.
"Oh man, man könnte meinen, dass wir im Zoo sind! Ihr seid die Raubtiere und sie euer Futter. Jetzt benehmt euch mal wie normale Jungs in euerem Alter!", motzt sie beide an.
Lukas schiebt Renée einfach zur Seite und setzt sich auf das Bett.
Schweigend betrachtet er mich während mir unter seinem Blick unwohl wird.
Lange sagt er nichts und ich überlege mir schon, was ich jetzt sagen soll, als Lukas sich einfach runterbeugt und mich küsst.
Einfach so.

Seine Lippen erkunden meine und ich weiß ehrlich gesagt nicht, was ich machen soll.
Erwidern? Ich liebe ihn ja nicht!
Wegschucken? Würde ihn verletzen.
Nichts machen? Ziemlich deutiges Zeichen, dass ich das nicht will.
Ich jedoch entscheide mich für zweiteres nur nicht gleich so extrem.
Ich lege meine Hände auf seine Brust und drücke ihn leicht nach hinten.
Lukas Lippen verschwinden von meinen und ich sehe seinen verletzten Blick.
"Nicht jetzt.", murmele ich und schaue auf die Seite.
Irgendwie will ich gerade nicht in seine Augen schauen.
Lukas nickt schwach, nimmt aber stattdessen meine Hand.
Mein Kopf dreht sich doch wieder zu ihm und ich sehe hinter Lukas eine fassungslos schauende Renée stehen. Sie formt ihre Lippen zu einem Kuss, zeigt dann aber anklagend auf mich und wedelt mit der Hand vor dem Gesicht rum. Sie wollte definitiv, dass ich den Kuss erwidere.
Ich blicke durch das Zimmer, aber Liam ist nicht mehr zu sehen.

"Grace?"
"Was?", frage ich und richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Lukas, der anfängt zu grinsen.
"Ich habe gefragt, ob es dir schon besser geht."
Renée kritzelt hektisch etwas auf ein Blatt Papier und hält dann ein 'Oh wie süß!'-Schild hoch. Okay, sie ist echt verrückt.
"Ähm ja.", fange ich an und schaue wieder Lukas in die Augen. "Schon ein wenig besser."
"Na dann ist ja gut. Aber bewegen solltest du dich trotzdem nicht."
Statt einer Antwort schüttele ich den Kopf.
"Jemand muss ihn umbringen."
Lukas runzelt die Stirn.

"Ihn? Wer ist das?"
"Der 'Böse'. Er wird Ariane und mich verfolgen. Er wird uns umbringen, wenn wir nichts unternehmen."
"Das kann noch warten. Dieser komische Typ, der dich hierher gebracht hat, hat gesagt, dass wir noch ein wenig Zeit haben und du dich deshalb zuerst ausruhen solltest." Lukas grinst. "Aber ich traue ihm eh nicht."
"Gut. Wir müssen nämlich so schnell wie möglich Ariane finden und einen guten Angriff planen."
Renée hämmert auf ihre Computertastatur ein.
"Hab sie. Wohnt nicht weit weg von hier entfernt.", sagt sie nach ein paar Sekunden Stille.
"Das ist...", ich will aufstehen, aber mein Rücken schmerzt und ich lasse mich wieder zurücksinken."...gut. Wir müssen zu ihr."
"Machen wir auch jetzt."
Renée öffnet die oberste Schublade ihres Schreibtisches und zieht ihren Autoschlüssel hervor.

"Was würde der komische Typ jetzt für dich vorschlagen?", fragt Lukas und dreht sich wieder zu mir.
"Vermutlich dass ich liegen bleiben soll.", sage ich und will gerade sagen, dass ich aber auf jeden Fall mitgehe, als Lukas vorsichtig seinen einen Arm an meinen Rücken legt und den anderen an meine Kniekehlen und mich hochhebt.
"Dann machen wir das schon mal nicht."

Mit mir verlässt Lukas Renées Zimmer und steuert auf die Treppe zu, als Liam die Treppe gerade hochgelaufen kommt.
"Wo willst du mit ihr hin?", fragt er bissig an Lukas.
"Nur mal raus.", sage ich schnell, bevor die beiden einen neuen Grund haben, um sich erneut an die Kehle gehen.

Liam zieht eine Augenbraue hoch, macht dann aber Platz, damit wir runterkönnen.
Renée poltert hinter uns die Treppe runter und wir verlassen das Haus.
Kaum hat Renée die Tür hinter sich geschlossen, öffnet sie ihr Auto und setzt sich auf den Fahrersitz.
Lukas hat mich gerade auf den Beifahrersitz gesetzt, als die Haustür aufgerissen wird und ein wütender Liam erscheint.

"An die frische Luft mit Autoschlüssel? Wollt ihr mich verarschen?"
Lukas setzt sich ungestört hinter Renée und mich und gibt ihr ein Zeichen, dass sie losfahren soll.
Sie dreht den Schlüssel um und tritt auf das Gaspedal.
Jedoch nicht schnell genug, um Liam zu entkommen.
Dieser reißt meine Tür auf und ich lasse den Gurt, mit dem ich mich gerade anschnallen wollte los und verpasse ihm einen kräftigen Schlag. Liam wird mich sicher nicht davon abhalten, Ariane zu suchen.
Ich stoße den taumelnden Liam zurück und schließe die Tür.
Renée gibt Vollgas und schon fährt sie aus der Auffahrt heraus auf die Straße.

"Okay, Grace", fängt sie an. "Wie heißt dieser Typ denn eigentlich?", fragt sie und umklammert fest das Lenkrad.
Na klar, irgendwann mussten die Fragen doch kommen.
"Liam", sage ich und meine Stimme ist nicht gerade kräftig.
Renée nickt, während sie um eine Ecke biegt und aus der Stadt fährt.
"Er ist ein 'Normaler', nicht?"
"Ja, ist er", antworte ich knapp.
"Und woher kennst du ihn so gut?", hakt sie nach. Kann sie mich das nicht fragen, wenn wir alleine sind und nicht gerade Lukas dabei ist, der gespannt lauscht?
Ich überlege kurz, wann ich ihn das erste Mal gesehen habe. Das scheint schon Ewigkeiten her zu sein.
"Vom Hausmeisterdienst."
Renée kichert.
"Ach das war doch echt behindert", sagt sie und schaut kurz zu mir, dann aber wieder auf die Straße.
"Wie geht es meinem Vater?", frage ich anstatt auf Renées Satz einzugehen.
Renée kneift ihre Augen zu Schlitzen.
"Deinem Vater? Gut glaube ich, wieso?"
Ach ist nur so, dass er sich schon mehrmals umbringen wollte.
Aber das sage ich natürlich nicht.
"Nur so.", sage ich und schaue auf die Straße.
"Okay, zurück zu dem Typ. Liam", verbessert Renée sich. "Wie konnte er dich einfach so entführen?"
Ich überlege erneut.
"Er hat mir Gabentraining angeboten."
"Ah! Und damit hat er auch gleich deine Gabe erfahren. Dumm ist der echt nicht."
Ich zucke die Schultern. Ehrlich gesagt habe ich damit gerechnet, dass sie sagt, dass ich echt dumm bin, weil ich darauf eingegangen bin.
Renée wirft einen Blick auf die lange, leere Straße und beugt sich dann zu mir.

"Liebst du ihn?", flüstert sie, damit Lukas es nicht hören kann. "Ich meine...er ist echt heiß."
Sie beugt sich zurück und bringt das Auto wieder auf den dafür vorgesehenen Platz auf der Straße.
"Ich weiß nicht", gebe ich zu.
Hätte man mich noch vor ein paar Wochen gefragt, hätte ich ja gesagt, aber es ist zu viel passiert, was meine Gefühle zu ihm auch verändert hat.
Und nur weil Liam heiß ist, heißt das nicht gleich, dass ich ihn liebe. Wäre dies nämlich der Fall, wäre ich schon unsterblich in Lukas verliebt.
Als Renée plötzlich auf die Bremse tritt, werden wir ein wenig nach vorne geschleudert, aber zum Glück sind wir alle angeschnallt.

Ich schaue auf die Straße, muss aber feststellen, das wir vor einem Haus stehen.
Ich beuge mich und schaue aus Renées Fenster und schlucke.
"Verfahren?", frage ich und begutachte das Haus, das man eigentlich nicht als Haus bezeichnen kann.
Es ist so alt und herunterkommen, dass ich da bestimmt nicht reingehen werde, weil ich sonst gleich von der Decke oder noch anderen Sachen erschlagen werde.
Renée tippt auf ihrem Handy rum.

"Ne, leider sind wir richtig", sagt sie und seufzt.
Dann dreht sie sich zu Lukas um.
"Du gehst voraus. Ich sag euch eins, wenn da drin ein Monster oder so ist, flüchte ich so schnell wieder, dass ihr noch nicht mal blinzeln könnt."
Lukas zuckt die Schultern.
"Was sollte da ein Monster drin sein? Dich will eh niemand fressen, noch dazu ist das ein ganz normales Haus."
"Ein ganz normales Haus?", fragt Renée und greift sich ein Pfefferspray aus ihrer Tasche.
"Na gut. Es ist halt keine Villa und das was du gewohnt bist, aber das ist einfach nur ein älteres Haus in einem Wald."
"Ja, in einem Wald! Uns könnte noch was pa..."
"Also ich geh jetzt", unterbreche ich Renée und steige einfach aus dem Auto.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now