Kapitel 32

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Schnell schaue ich mich in meinem zweiten Zimmer um, kann aber kaum etwas erkennen, da dieser 'jemand' das ganze Zimmer abgedunkelt hat.
Ein letzter Ton erklingt, bevor das Stück mit einem schiefen Ton endet. Ich verziehe das Gesicht. So hatte ich das aber nicht komponiert!
"Das sollte ein G sein", sage ich und der 'Jemand' lacht leise.
"Nette Begrüßung", sagt er und ich ziehe scharf Luft ein, als ich auf den Lichtschalter drücke und sich meine Vermutung bestätigt.
Mein Vater sitzt an meinem Klavier und spielt von meinen selbstgeschriebenen Stücken!
"Hallo, Dad", sage ich und schaue auf mein Klavier, da der rote Strich an seinem Hals mehr als nötig zu erkennen ist und mich das an den Anblick aus dem Badezimmer erinnert.
"Na, wie war dein Tag?"
Was soll denn die scheiß Frage jetzt? Machen wir auf heile Welt und super Familie? Bitte nicht.
Aber nur zu gerne hätte ich mit 'Gut, bis vor einer Minute.' geantwortet, was aber auch nicht mal der Realität entspricht, da ich schon schönere Tage erlebt habe.
"Was machst du hier?", frage ich stattdessen und lasse das Mathebuch sinken.
"Freust du dich denn nicht?", entgegnet mein Vater, anstatt meine Frage zu beantworten.
Ich zucke mit den Schultern, weil ich wirklich nicht weiß, ob ich mich freuen oder doch lieber weinen sollte.
Dann fällt mein Blick auf seine Hand, die auf meinem Klavier verharrt ist.
"Seit wann kannst du Klavier spielen?", frage ich und zeige auf mein Klavier.
"Seit ich sechs Jahre alt bin", antwortet mein Vater nur knapp.
Erst jetzt fällt mir auf, wie schlecht ich ihn kenne, genauso schlecht wie ich meine Mutter kannte.
Ich habe es bloß zu spät gemerkt, dass ich zu wenig von ihr weiß und jetzt ist sie weg. Und das für immer.
Ich seufze und verlasse das Zimmer.

Den restlichen Tag habe ich versucht, meinem Vater aus dem Weg zu gehen, da mich die Wunde an seinem Hals immer wieder an einen gewissen Moment erinnert. Also habe ich gelernt, aber meine Gedanken waren nie dort, wo sie sein sollten, sondern bei der Szene heute Mittag mit Jack.
Wie soll ich jetzt die Schule betreten, ohne immer wieder daran zu denken müssen? Vor allem, wie soll ich mich den ganzen Blicken und dem ganzen Gelästere aussetzen?
Eigentlich wollte ich meinen Arzt anrufen, damit er mich wieder für eine Woche krank schreibt, aber ich entscheide mich dafür in die Schule zu gehen. Wenn ich morgen zu Hause bleibe, weiß Jack, dass er gewonnen hat und ich einen Rückzieher starte.
Das will ich ihm nicht geben. Außerdem werde ich den Tag irgendwie überstehen, wahrscheinlich nur durch den Gedanken, dass danach Wochenende ist.

Als es schon dunkel ist, gehe ich noch eine Runde spazieren und kaufe mir trotzt der Kälte noch ein Eis an meiner Lieblingseisdiele.
Dann laufe ich durch den schön beleuchteten Park und bleibe an einem kleinen Bach stehen und starre auf das Wasser, das ganz ruhig und langsam fließt.
Die Ruhe des Parkes überträgt sich auf mich, so dass meine Wut auf alles heute verschwindet und Platz für andere Gefühle macht.
Es ist so angenehm ruhig, dass ich durch Schritte fast zu Tode erschreckt werde und zusammen zucke.
Ich warte darauf, dass die Schritte an mir vorbei ziehen, aber das geschieht nicht. Stattdessen hören die Schritte hinter mir auf.

"Grace?"
Ich atme einmal tief ein, bevor ich mich zu Liam umdrehe.
Ich habe mir zwar versprochen, dass ich nicht mehr mit ihm reden werde, damit er nicht auch noch mit reingezogen wird, aber in dem Moment, in dem ich in die wunderschönen grünen Augen schaue, fällt es mir unglaublich schwer, dieses Versprechen einzuhalten.
Liam wartet darauf, dass ich etwas sage, aber ich bin einfach zu unfähig auch nur ein Wort über die Lippen zu bekommen, da in mir gerade ein Kampf stattfindet. Einerseits will ich ihn bei mir haben, andererseits ist das bloß zu seinem Nachteil, auch wenn er das nicht so sieht oder nicht weiß.

Langsam trete ich einen Schritt zurück. Mein vernünftiger Teil hat den Kampf gewonnen. Nur was soll ich jetzt sagen? Soll ich überhaupt etwas sagen?
"Liam, lass mich einfach in Ruhe", sage ich und versuche überzeugend zu klingen, was mir glaub ich auch ganz gut gelingt.
Liam runzelt die Stirn.
"Alles okay?", fragt er und tritt näher an mich hin.
Geh einfach! Wenn ich jetzt nicht weglaufe, wird Liam ganz mit reingezogen.
Ich will mich gerade umdrehen, als er mich an meinem Handgelenk packt und mich daran festhält.
"Du willst doch nicht einfach gehen", sagt er und seine Lippen, oh man, gar nicht gut, wenn ich auf die schaue, formen sich zu einem Lächeln.
"Lass mich los!", zische ich ihn an. Wenn ich unfreundlich bin, lässt er mich vielleicht einfach gehen.
"Ich versteh gar nicht, was jetzt mit dir los ist", sagt Liam mehr zu sich als zu mir.

Ich sollte jetzt dringend gehen!
Verzweifelt ziehe ich an meinem Arm, jedoch scheint Liam nicht Lust dazu haben, mich loszulassen.
"Wenn du mich jetzt nicht loslässt, schreie ich, Idiot", drohe ich und ernte ein Lachen.
"Mach doch. Hier ist weit und breit niemand."
Seufzend schaue ich mich um und gebe Liam in Gedanken Recht. Aber nur in Gedanken!
"Trotzdem könntest du mich loslassen", sage ich schon etwas freundlicher.
Liam grinst, was für mich ein eindeutiges 'Nein.' ist.
Stattdessen fährt er mit seinem Daumen über meinen Handrücken, wobei dieses blöde Prickeln durch meinen Körper schießt.
Seine Augen schauen ziemlich konzentriert in meine, als würde er auf irgendetwas warten.
"Lass das", fauche ich ihn an.
Liams Antwort ist ein erneutes Grinsen und sein Daumen auf meinem Unterarm.
"Wir wollten zusammen trainieren", erinnert er mich.
"Nein. Du wolltest trainieren. Ich nicht", verbessere ich ihn schnell.
"Ich habe es dir netterweise angeboten, deshalb wirst du es auch annehmen. Oder sind 'Reiche' jetzt etwa nicht mehr scharf auf Freundlichkeit? Obwohl, Freundlichkeit und du sind weit voneinander entfernt."
"Der Ansicht bin ich auch. Und genau deshalb werde..."
Ich komme aus meinem Konzept, als er mit seinem Daumen Kreise auf meinem Unterarm malt.
"Und genau deshalb werde ich es auch nicht annehmen", sage ich und schaue auf den Boden, weil mich seine grünen Augen offensichtlich verschlingen wollen.
"Doch, dann wirst du den Abstand zwischen Freundlichkeit und dir gleich verkürzen."
"Ich weiß gar nicht, wieso ich mich verbessern sollte. Ich bin zufrieden mit mir", erwidere ich.
"Wir trainieren einfach. Dann wirst du deine Gabe vielleicht auch mal toll finden."
"Du wirst ganz sicher nichts an meiner Denkensart ändern."
"Wer weiß?"
Liam fährt mit seinem Daumen wieder zu meinem Handrücken.
Mein Versuch, ihm meinen Arm zu entreißen kommt nicht zustande, da ein lautes Gebell ertönt und im nächsten Moment ein Hund auf uns zurennt.
Ich erstarre, als ich erkenne, wessen Hund das ist.
Die kleine, süße Kessy, der Hund von Lukas kleinem Bruder, kommt direkt auf mich zugestürmt.

"Kessy, aus", höre ich Lukas rufen. Im nächsten Moment erscheint er um die Ecke.
Sofort bleibt er wie angewurzelt stehen und schaut zu Kessy, die jetzt bei mir angekommen ist und mich freudig begrüßt, zu mir und dann zu Liam.
Hoffentlich sieht das jetzt nicht falsch aus.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now