Kapitel 55

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Sprachlos und fassungslos klappt mir der Mund auf.
"Du...was?", frage ich nach, damit ich mich auch nicht verhört habe.
Liam krallt seine Finger in seinen Jackenärmel, damit er nicht nervös mit ihnen rumfuchtelt.
"Ich liebe dich.", wiederholt er leise und schaut mich gespannt an.
Jetzt werde ich nervös.
Bestimmt ist das bloß so ein blöder Trick, damit er mich wieder entführt oder er sich erhofft, dass ich ihm freiwillig hinterherlaufe.
Ernst gemeint ist das wahrscheinlich nicht, auch wenn ich es mir sehnlichst wünsche. Wie aber soll ich wissen, ob das nicht nur ein Trick ist?
Vor allem aber, liebe ich ihn? Nach allem, was passiert ist?
"Deinen blöden Trick kannst du bei mir vergessen.", zische ich und Liams Augen weiten sich.
"Das ist kein..."

"Du willst doch bloß, dass du keine schlechten Gefühle hast, wenn du mich jetzt dem 'Bösen' auslieferst. Kannst dann ja sagen, dass diese Kraft dich wieder eingenommen hat. Ganz ehrlich, Liam, ich habe das satt! Weißt du was ich glaube? Du lügst am laufenden Band, da du dir keine Sorgen machen musst, das jemand es bei dir merken könnte und das nutzt du aus."
Na super, jetzt bin ich richtig in Fahrt geraten. "Manchmal hoffe ich, dass du wirklich gut sein willst, aber dann kommt so etwas und ich weiß, dass du mich die ganze Zeit verarschst. Du bist und bleibst ein Anhänger des 'Bösen' und komm jetzt nicht damit, dass du gut bist und es ernst gemeint hast. Ich weiß gar nicht, wieso ich mich mit so einem unberechenbaren Idioten abgebe."
Liam sucht sichtlich nach Worten.
"War die Flucht nicht schon Beweis genug, dass ich nicht mehr auf seiner Seite bin? Ich hätte dir nicht helfen müssen! Und als du angeschossen wurdest, wäre es noch einfacher gewesen, dich wieder zurückzubringen. Ich habe in dem Moment mein eigenes Leben riskiert, damit du da rauskommst, aber das merkst du nicht, oder? Ich wollte damit alles gut machen, was ich falsch gemacht habe, aber das ist dir egal."
"Das ist mir nicht egal!", protestiere ich. "Aber wenn ich dir etwas bedeutet hätte, dann hättest du mich nicht zu dem 'Bösen' gebracht."
Liam streicht mit einer Hand durch meine Haare.
"Du bedeutest mir ziemlich viel. Du bist einfach alles für mich. Ohne dich wäre ich dem 'Bösen' verfallen, aber du hast mich ganz unbewusst dazu motiviert gegen die Kraft zu kämpfen."
"Schwachsinn!", zische ich, jedoch schüttelt Liam den Kopf.
"Seit du gefoltert wurdest, hat es sich in mir ganz langsam geändert. Wie oft habe ich mir schon gewünscht, nicht mehr durch diese Kraft kontrolliert zu werden. Du bist dieses Gefühl von reiner Freiheit gewöhnt, aber ich habe jahrelang nur mit dieser Kraft gelebt, die mich gelenkt und zu etwas gemacht hat, was ich nicht sein will."
Bedauernswert mustere ich Liam, als würde ich ihn endlich richtig sehen. Als einen Jungen, der sich immer nur Freiheit gewünscht hat.
"Durch dich, Grace, habe ich gelernt diese Kraft zurückzudrängen. Du hast mir meine Freiheit zurückgegeben."
"Ich..."
"Ich meine es todernst. Vielleicht glaubst du mir nicht, aber ich weiß, dass es stimmt und ich hoffe, dass du mir auch glaubst."

Geschickt weiche ich seinem Blick aus und schiebe meine Hände in die Jackentasche.
Schweigend betrachtet Liam mich und wartet ganz offensichtlich auf eine Antwort.
Ich habe ihm vertraut und er hat mich enttäuscht. Wie soll ich ihm jetzt glauben? Es sind nur drei Worte. Die könnte jeder sagen. Ob sie dann wirklich etwas bedeuten ist was anderes.
Vielleicht sollte ich es genau so sagen, dann würde er verstehen, wieso ich ihm das nicht glauben kann.

Mach dich an ihn ran, dann können wir ihn viel einfacher übermorgen als Geisel nehmen. Außerdem hast du dich dann auch mal an ihm gerächt.

Renées Worte fallen mir ein und ich fange an zu grinsen. Es wäre der perfekte Moment. Dann sehe ich auch, wenn er es Ernst meint. Aber würde er mir dann auch verzeihen können, falls er es so meint, wie er behauptet?
"Naja...", fange ich an und richte meinen Blick stur auf den Boden. "Vielleicht glaube ich dir ja."
Langsam hebe ich meinen Blick und schaue in die grün strahlenden Augen, die mich wie hypnotisiert anschauen.
In Liams Augen erkenne ich keine Reaktion, aber ich merke an seiner Körperhaltung, dass er sich ein wenig entspannt.

Liams Blick fällt auf meine Lippen und wandert zwischen ihnen und meinen Augen hin und her.
Ich wende meinen Blick ab, aber Liam legt seine Hände auf meine Wange und dreht mein Gesicht wieder zu sich.
"Mehr erwarte ich nicht von dir.", flüstert er und ein Prickeln geht von seinen Händen auf meinen Körper über.
Vorsichtig, als hätte er Angst, dass ich ihn gleich schlage, oder dass ich abhaue, kommt er mir näher.
Nicht mal mehr fünf Zentimeter trennen uns voneinander und ich spüre schon seinen Atem auf meinen Lippen.
Ich vergesse ganz zu atmen, als ich auf einmal seine Lippen auf meinen spüre.
Zuerst noch ganz zögerlich, aber dann immer drängender.
Ich schließe meine Augen, während Liam einen Arm um meine Taille schlingt und mich näher zu sich zieht.
Ein Feuer explodiert in mir und die Wärme  durchströmt meinen Körper. Ich lege meine Hand in seinen Nacken und ziehe in näher zu mir, während nach der Wärme ein anderes Gefühl folgt. Aber es ist nicht so schön. Liam drückt mich an die Hauswand hinter mir und ich spüre die angenehm kalte Wand durch meine Jacke hindurch.
So langsam merke ich, was das unschöne Gefühl ist, da mir schwindlig wird. Panisch drücke ich Liam kraftvoll von mir und schnappe schnell nach Luft. Wie dumm muss ich aber auch schon sein, dass ich vergessen habe zu atmen?
Nachdem nicht mehr Sterne vor meinen Augen tanzen, wegen dem Sauerstoffmangel, schaue ich in verletzte grüne Augen. So langsam beruhige ich mich wieder und suche nach Worten.

"Tschuldigung.", murmele ich und Liam erkennt das Sauerstoffproblem. Betreten wende ich den Blick ab und achte auf dieses Feuer in mir, das immer noch lodert.
Liam fängt an schief zu grinsen und dreht mein Gesicht zu sich.
"Wofür entschuldigst du dich? Ich finde, dass es wundervoll war.", gesteht er.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now