Kapitel 28

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Total unmotiviert schlendere ich durch den Supermarkt und kaufe ein, da der ganze Kühlschrank leer ist und ich alles andere als ein großer Fan von Hunger bin.
Immer wieder werfe ich einen Blick auf mein Handy, da ich keine Uhr trage.
Gegen circa zwölf Uhr verlasse ich den Supermarkt und fahre nach Hause. Meinen Vater werde ich heute nicht mehr besuchen, da bin ich mir ganz sicher. Zu sehr war ich schockiert davon, was ich gesehen habe. Was er sich selber angetan hat. Einfach nur furchtbar. Warum wird man so? Selbst ich will mich noch nicht umbringen und ich hätte doch eigentlich auch Gründe dazu.
Während ich Nachrichten höre und zu Liedern mitsinge, räume ich den Kühlschrank ein. Hoffentlich hört mich niemand, wenn ich singe. Da ist ja sogar ein Staubsauger talentierter als ich.
Leider. Ich beneide echt Leute, die gut singen können.

Dann beschließe ich Lukas eine Freude zu machen. Vielleicht auch nur, um meine Schuldgefühle loszuwerden. Sie plagen mich schon den ganzen Tag und ich frage mich echt, wie ich meinen besten Freund anlügen konnte. Irgendwann wird er es eh herausfinden, auch wenn das dann ziemlich unschön für Liam und auch für mich wäre. Aber Liam und ich sind noch nicht mal Freunde, oder? Eigentlich gibt es keinen Grund, dass Lukas dann sauer auf mich werden würde.

In Gedanken versunken fahre ich zur Schule und sehe auch ziemlich schnell, dass Lukas Auto nicht da steht. Entweder er ist gar nicht in der Schule oder er ist gelaufen.
Ich lehne mich gegen mein Auto, während ich darauf warte, dass ich die superbeliebte Schulklingel höre.
Kaum ertönt diese auch, füllt sich der Parkplatz mit Schülern, die zu den Bussen rennen, zu den Autos laufen oder einfach zu Fuß gehen.
Erst als es allmählich leerer wird, verlässt Lukas in ein Gespräch mit Renée vertieft das Gebäude.
Renée schaut über den Parkplatz und bleibt bei mir hängen.
"Grace!", schreit sie über den ganzen Parkplatz, so dass sie die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht und ich so tue, als würde ich sie nicht kennen.
Freudestrahlend kommt sie zu mir gestürmt und umarmt mich so kräftig, dass mir die Luft aus den Lungen gepresst wird.
"Wie gehts dir?", fragt sie und lässt mich los.
"Naja", sage ich.
"Den Umständen entsprechend gut?"
Ich muss lachen, da sich solche Worte aus Renées Mund einfach nur falsch anhören.
"So kann man es auch formulieren."
Renée dreht sich kurz um, schaut mich aber zwei Sekunden später schon wieder an.
"Bist du wegen Lukas hier? Wenn nicht können wir auch was zusammen machen", schlägt sie mir vor und ich enttäusche sie durch mein Grinsen, das für sie mehr als verständlich ist.
Lukas kommt ganz langsam auf uns zu, wahrscheinlich weil er unser Gespräch nicht stören will.
"Na gut. Dann noch viel Spaß", sagt sie und grinst.
Ich verdrehe die Augen.
"Ich komme nachher zu dir. Wir müssen mal wieder über ein paar Sachen reden."
"Jap, klar. Bis dann", sagt Renée und läuft zu ihrem Auto.

Lukas ist mittlerweile nur noch einen Meter von mir entfernt.
"Was für eine Überraschung! Ich hätte schon gedacht, dass ich im Regen nach Hause laufen muss."
Erst jetzt wo er es sagt, fällt mir auf, dass es anfängt zu regnen.
"Das kann ich doch nicht zulassen."
"Bin ich froh, dass ich dich habe", sagt er und steht jetzt so nah an mir, dass ich seinen Atem auf meiner Haut spüre.
"Was wollen wir machen?", frage ich und weiche ein paar Zentimeter zurück.
"An die Mauer und dann Eis essen", schlägt Lukas stattdessen vor.
"Gut."
"Aber anscheinend noch nicht perfekt. Was willst du denn anders machen?"
"Das Eis an der Mauer essen", sage ich und grinse.
"Gut, machen wir."
Ohne auf meine Einladung zu warten setzt er sich auf den Beifahrersitz.

Keine zehn Minuten später stehen wir an einer Eisdiele, nahe an der Mauer. Jetzt müssen wir es bloß an die Mauer schaffen, ohne dass uns jemand sieht.
Mit dem Eis in der Hand schleichen wir uns von Haus zu Haus, bis wir direkt an der Mauer sind.
Lukas nimmt meine Hand und zeigt auf einen Wachen, der keine zehn Meter von uns entfernt auf der Mauer steht und sich zu allen Seiten umdreht.
Wir warten ab, bis er sich umdreht und rennen dann los.
Wir kriechen in ein Loch an der Mauer, weil Lukas direkt an das Meer will.
Immer wieder schaut er aus dem Loch und zu dem Wachen hoch.
Dann zieht er mich zügig an der Hand aus dem Loch und direkt auf die grüne unebene Wiese.
Wenn sich der Wache jetzt umdrehen würde, würde er uns auf jeden Fall sehen, aber zum Glück schaffen wir es rechtzeitig hinter einen kleinen Hügel, wo wir uns noch einmal extra klein machen, damit er uns auch sicher nicht sieht.

"Das reicht", sage ich und schnappe nach Luft, da ich den Atem angehalten habe.
Lukas lächelt mich an.
"Gut. Dann genießen wir jetzt so unser Eis", sagt er und begutachtet das Eis, als wäre es etwas Außerirdisches. Aber was will er auch erwarten? Dass ein Eis, wenn man damit gerannt ist, immer noch so aussieht, als hätte man es gerade erst gekauft?
Ich zucke mit den Schultern.
"Eis bleibt Eis. Und wenn du deins nicht willst, nehm ich es", sage ich und probiere mein Haselnuss-Eis.
"Niemals. Das ist meins", sagt Lukas und probiert seins.
"Nicht gleich so besitzergreifend! Was soll das Eis bloß von dir denken?"
Lukas grinst mich an.
"Das kann keinen klaren Gedanken mehr fassen. Das ist so überglücklich, dass es jetzt bei mir ist."
"Mein Beileid, liebes Eis", sage ich und schaue auf das Meer.

Der Anblick ist atemberaubend.
Es ist als würde alles auf Onaria still stehen. Keine anderen Leute um mich herum, keiner der einen nervt. Es hat sogar aufgehört zu regnen.
Nur Lukas und ich und die scheinbare unendliche Freiheit.
Ja, wenn ich hier so sitze fühle ich mich richtig frei.
Am liebsten wäre ich die letzten Meter zum Wasser gerannt, aber das würde das Ende unseres Ausflugs bedeuten.
Ich betrachte Lukas von der Seite.
Er wirkt perfekt, ohne auch nur einen Fehler. Und gerade sieht er auch noch abnormal perfekt aus.
'Man, Grace! Das tut er immer!', höre ich Renée über Lukas sagen.
Womit habe ich ihn verdient?

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now