Kapitel 52

8.9K 789 76
                                    

Ehe ich die Autotür geschlossen habe, öffnet sich sowohl Lukas als auch Renées Tür.
Trotzdem laufe ich auf das etwas gruslige Haus zu.
"Warte, Grace!", höre ich Lukas hinter mir und drehe mich genervt um.
"Was? Wenn wir noch drei Stunden rum diskutieren, ob wir in das Haus gehen oder nicht, ist es dunkel und dann will ich nicht mehr darein.", sage ich und laufe weiter, wobei mein Blick auf die Holztür gerichtet ist.
"Lass mich wenigstens vor."
"Ich kann auf mich selbst aufpassen.", erwidere ich.

Ehe ich einen weiteren Schritt gelaufen bin, steht Renée direkt vor mir.
Erschrocken atme ich Luft aus, während Renée ihre Arme in die Seite stemmt.
"Ich hasse das!", zische ich und Renée grinst, weil sie das genau weiß.
"Hab ich doch gerne gemacht."
Dann dreht sie sich um, währenddessen mir eine Idee kommt.
"Wie wärs, wenn wir uns einfach in das Haus...zaubern? Also durch deine Gabe.", erkläre ich und Renée macht ein überlegendes Gesicht.
"Find ich besser. Hinter der Tür ist nämlich bestimmt ein riesiges Monster mit großen grusligen Augen, spitzen Zähnen und überdimensionalen Pfoten oder Krallen."
Ich verdrehe die Augen.
"Aber sicher doch."
Mittlerweile hat es auch Lukas zu uns geschafft.
Was haben die Beiden gesagt?
"Wir wollen durch Renées Gabe in das Haus kommen.", sage ich und Lukas bekommt große Augen, während Renée nicht weiß, was los ist.

"Ja, Grace, das weiß ich au...", fängt Renée an, wird aber von Lukas unterbrochen.
"Hast... hast du etwa meine Gedanken gelesen?", fragt er fassungslos und Renée schaut mich verwirrt an.
"Was labbert der?", fragt sie und zeigt stirnrunzelnd auf Lukas.
"Der? Ich bin direkt neben dir!", beschwert sich Lukas sofort und irgendwie erinnert mich das an ein typisches Gespräch zwischen Liam und mir.
Grinsend überlege ich mir, wie ich das mit dem Gedanken lesen am Besten erkläre.
"Ähm, ja, hab ich.", gebe ich zu und Renées Finger, der immer noch auf Lukas gerichtet ist verliert langsam an Höhe.

"Was?", fragen Lukas und Renée wie aus einem Mund.
Ich schaue auf den Boden und verwerfe den Drang wie ein kleines Kind von einem Bein auf das andere zu treten und zugeben zu müssen, dass ich etwas ganz Böses gemacht zu haben. Aber das habe ich ja nicht.
"Ja, also...", gluckse ich herum, "...ich kann Gedanken lesen. Ist durch einen Unfall passiert."
Warte! Unfall? Das war doch gar keiner!
"Unfall?", hakt Lukas auch gleich nach.
"Unwichtig.", sage ich und winke ab.
"Äh, das ist nicht nur alles andere als unwichtig, sondern auch interessant. Jetzt erzähl!", fordert Renée mich auf.
Ich streiche mir eine braune Haarsträhne, die der Wind mir ins Gesicht geweht hat nach hinten.

"Es geht um einen 'Kreis der 10 Gaben'. Das sind 10 Gaben, mit denen der 'Böse' Onaria erobern will. Acht Leute hat er schon umgebracht und wären Ariane und ich nicht geflohen, wären wir tot und der Böse Herrscher."
Renée verschränkt die Arme vor der Brust.
"Ich habe dir oft gesagt, dass deine Gabe voll cool ist!"
"Ja so cool, dass ich eine große Wunde an meinem Rücken und an meinem Bauch habe. Super cool, muss ich schon sagen."
Renée grinst.
"Okay, doch nicht so cool."
"Ich habe dann gefunden, wo die Gaben aufbewahrt werden und wollte sie vernichten. Das ist nur leider nicht so gelaufen, wie ich wollte."
"Hey, ist doch geil! Ich will auch Gedanken lesen können.", sagt Renée begeistert.
"Ich fühle mich jetzt unwohl, wenn ich weiß, dass du einfach mal meine Gedanken lesen kannst.", ist das, was Lukas bloß dazu sagt.
"Glaub mir, das ist auch nicht toll. Ich habe echt ein schlechtes Gefühl, wenn ich in dem Kopf eines anderen herumstochere.", gebe ich zu. Ich würde bloß Abstand suchen, wenn ich wüsste, dass jemand meine Gedanken lesen kann. Das geht so ziemlich oft direkt in die Privatsphäre.

Mein Blick fällt wieder auf das alte Haus.
"Also, durch meine Gabe gehen wir jetzt da rein, oder wie?", fragt Renée noch mal nach.
"Ja.", sage ich schon ein wenig genervt, weil ich mir sicher bin, dass da kein Monster ist.
"Aber...", fängt Renée an und landet in einem Streit mit Lukas.
Die beiden sind so vertieft da drin, dass ich sie einfach umrunde und alleine zum Haus gehe.
Etwas zögernd strecke ich die Hand nach dem Türgriff aus und schiebe mein bisschen Angst auf Renée, die uns die ganze Zeit sagt, dass da wahrscheinlich ein Monster drin ist.
Man, warum stelle ich mich so an? Das ist ein normales Haus in einem normalen Wald!
Zuerst drücke ich den Griff runter und drücke die Tür nach innen, aber erst mit mehr Schwung bekomme ich sie auf.

Schnell schaue ich mich um, aber ich sehe eine eigentlich ganz nette eingeräumte Wohnung. Und keine Spur von einem Monster.
Kaum bin ich eingetreten, schließe ich die Tür, wobei ich noch einen Blick auf Renée und Lukas werfe, die immer noch miteinander diskutieren. Bis die eine Lösung haben, bin ich fertig und wir können wieder gehen.
In einer Ecke rechts von mir sehe ich einen Lichtschalter und ich finde, dass Licht praktisch wäre, weil es nicht wirklich hell hier ist. Also greift meine Hand nach dem Schalter, während ein Knarzen mich zusammen zucken lässt. Ich schaue mich um, solange meine Hand in Richtung Lichtschalter vorrückt.
Ich habe ihn gerade erreicht und will ihn drücken, als ich etwas berühre. Sofort ziehe ich meine Hand zurück und schaue zum Schalter, auf dem schon eine Hand ist.

"Grace? Alter, bist du das?", fragt eine mir bekannte Stimme und drückt endlich auf diesen Schalter.
Kaum durchflutet Licht die Wohnung sehe ich blonde Haare, die ein wunderschönes Gesicht umspielen, auf dem sich ein Lächeln ausbreitet.
Im nächsten Moment bin ich in einer Umarmung gelandet und rieche Arianes Duft, der mich an Weihnachten erinnert.

"Hätte nicht gedacht, dich noch mal zu sehen", gibt sie zu, sobald sie mich mal wieder losgelassen hat.
"Ich habe ehrlich gesagt gedacht, dass du schon längst untergetaucht bist", sage ich und Ariane grinst.
Dann zieht sie mich mit in ein gemütliches Wohnzimmer, wo sie mich auf ein cremefarbenes Sofa drückt und sich selbst neben mich setzt.
"John wird mich so oder so finden. Dann bleib ich wenigstens in der Wohnung meiner Eltern. Ich habe ja schon gedacht, dass du John bist."
"John?", frage ich neugierig.
"Ich hatte ja auch einen Trainer. Das ist wie bei dir dieser...mhm...Typ mit den abnormal grünen Augen. Der hat die sich doch operieren lassen, oder?", fragt sie aus Spaß."Und was ist so dringend, dass du mich besuchst? Wir können ja auch ein Kaffeekränzchen machen und uns über den neuesten Tratsch unterhalten."
Ich schüttele den Kopf.

"Wir haben besseres zu tun", sage ich und Ariane beugt sich interessiert nach vorne.
"Und das wäre? Was ist bitteschön wichtiger als Kaffee zu trinken?"
"Ich hasse Kaffee", ist mein einziger Kommentar dazu. "Wir werden uns rächen."
Ariane grinst.
"Oh, es geht doch besser wie Kaffee."
"Bist du dabei?"
"Dumme Frage. Das ist ja, wie wenn du mich fragen würdest, ob ich ohne Kaffee leben kann."
"Kannst du mal mit deinem Kaffee aufhören? Also, gut, du bist dabei."
"Welche andere Kaffeesorten nehmen wir sonst noch mit?", fragt Ariane.
"Kaffeesorten?"
"Wer wird uns noch helfen?", fragt sie jetzt schon verständlicher.
"Weiß noch nicht. Du bist die Erste, die ich gefragt habe."
"Ich fühle mich geehrt", sagt Ariane und steht auf. "Kaffee?"
"Ariane!"
"Okay gut", sagt sie und hebt die Hände vor sich. "Dann halt nur ich."

"Wir brauchen einen gut durchdachten Plan", lenke ich von dem Kaffee ab, während Ariane sich einen macht.
"Schon Ideen?", fragt Ariane aus der Küche.
"Nein. Ich bin seit ein paar Stunden erst hier, okay? Da muss ich mich zuerst mal wieder an meine Freiheit gewöhnen."
"Kenn ich. Erst wenn man aus diesem Gefängnis wieder draußen ist, merkt man, was Freiheit bedeutet."

Ich nicke. Es ist einfach wunderbar über dieses 'Gefängnis' zu reden ohne gleich in die Folterkammer gesteckt zu werden.
"Gut. Dann fangen wir mal an mit dem Plan", sagt sie und setzt sich mit einer vollen Tasse neben mich, während sie einen Stift und ein Papier vom Tisch zu uns zieht.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now