Kapitel 27

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Kaum habe ich mich auf das Sofa gelegt, um mich ein bisschen auszuruhen, klingelt das Telefon. Blitzschnell bin ich aufgestanden und durch das halbe Haus gerannt.
"Hallo?", frage ich in der Hoffnung, dass es das Krankenhaus ist.
"Grace? Na endlich! Warum ist dein Handy aus?", fragt Lukas. Ganz deutlich spüre ich eine Enttäuschung in mir aufsteigen.
Ich ziehe mein Handy aus der Jackentasche und stelle fest, dass es aus gegangen ist. Vermutlich hatte es keinen Akku mehr.
"Ähm, Akku leer. Was ist denn?", frage ich unsicher.
"Ich wollte wissen, wieso du gerade vorhin einfach gegangen bist."
Ach so. Jetzt brauch ich aber schnell eine Lüge. Zum Glück bin ich so kreativ, dass ich mit der typischen Lüge daher komme.
"Mir ist schlecht geworden", sage ich und ziehe mein Gesicht zu einer Grimasse. Lukas kennt mich so gut, dass er Lügen locker erkennt.
"Alles gut?"
Ich stoße meine angehaltene Luft aus.
"Ja. Alles bestens."
Er hat es nicht bemerkt. Dann muss er aber extrem unaufmerksam gewesen sein.
"Grace, willst du mir etwas vormachen? Weißt du was? Ich fühle mich gerade richtig verarscht! Ich komme mal kurz rüber."
Ehe ich etwas sagen kann, was ich liebend gerne gemacht hätte, hat er aufgelegt.
Mit einem Seufzen stelle ich das Telefon zurück und gehe in mein Zimmer. In Gammelklamotten will ich ihm nicht gegenüber treten, auch wenn ich zu Hause immer so rumlaufe.
Am Ende lasse ich doch das T-Shirt und die extrem kurze Hose an, weil Lukas mich bestens kennt. Er hat mich schon oft in meinen typischen 'das trage ich zu Hause'-Klamotten gesehen.
Durch ein Klingeln zucke ich zusammen. Der war aber schnell!
Ich laufe zur Tür und öffne sie.
Lukas steht draußen und mustert mich sehr genau, wobei er meiner Meinung nach etwas zu lange an meiner Hose und meinen Beinen hängen bleibt.
"Hey", begrüße ich ihn und setze ein Lächeln auf.
Statt einer Begrüßung seinerseits, schließt er den Abstand zwischen uns und umarmt mich kräftig.
"Ich habe mir richtig Sorgen um dich gemacht", murmelt er und lässt mich los.
"Musst du doch nicht. Ich kann auf mich selbst schon aufpassen."
Lukas lächelt.
"Darf ich rein?"
Er zeigt in das Haus. 'Mangelnde Gastfreundschaft!', ermahnt mich meine Mutter in Gedanken.
"Ja klar."
Lukas läuft an mir vorbei und die Treppe hoch, bis in mein Zimmer.
Dort setzt er sich auf mein Bett und ich mich neben ihn.
"Also, was ist, dass du mitten in der Nacht hierher kommst?"
"Wo warst du?", fragt er stattdessen. "An der Mauer nicht, das ist ja jetzt verboten und Renée wusste auch nicht, wo du bist. Also wo warst du abends um zehn Uhr?"
Ich lehne meinen Kopf an die Wand.
"Spazieren", sage ich, was teilweise auch der Wahrheit entspricht.
Lukas dreht den Kopf und schaut mich an.
"Das nehm ich dir nicht ab", sagt er leise, aber in einem Ton, der mich dazu zwingt, die Wahrheit zu sagen.
Jedoch darf ich ihm nicht von Liam erzählen.
"Ich war im Ticketladen und habe Karten für Renées Geburtstag gekauft", sage ich.
"Der hat nur bis neun Uhr offen. Jetzt ist elf Uhr."

Lukas kommt mir näher.
"Vielleicht willst du es mir nicht sagen, was du in zwei Stunden gemacht hast, aber sag mir wenigstens, dass du nicht mit einem Jungen zusammen warst. Sag es mir, damit ich mir keine Sorgen um uns beide machen muss."
Lukas ist jetzt nur noch ein paar Zentimeter von mir entfernt und ich bekomme ein kleines bisschen Angst vor ihm.
Ganz langsam weiche ich ein paar Zentimeter zur Seite.
"Was sollte ich mit einem anderen Jungen abhängen?", frage ich und versuche diesen Satz glaubwürdig klingen zu lassen.
"Weiß ich doch nicht. Vorstellen könnte ich es mir."
"Lukas! Ich war nur spazieren. Da war überhaupt nichts mit einem anderen Jungen!", sage ich und hoffe, dass er die Lüge nicht hört.
"Na gut." Lukas weicht ein wenig zurück. "Ich glaube, ich gehe dann mal wieder."
"Okay."
Ich laufe ihm hinterher und öffne ihm die Tür.
"Bis morgen", sagt er und umarmt mich.
"Ich komme noch nicht in die Schule", sage ich.
"Ich weiß. Aber ich komme hierher."
Mit einem Lächeln verlässt Lukas das Haus und wird auch gleich von der Dunkelheit verschluckt.

Müde und mit Schuldgefühlen, weil ich ihn einfach angelogen habe, verkrieche ich mich in mein Zimmer und lege mich dann auch gleich schlafen.
Lange höre ich noch den Regen gegen das Fenster klatschen, bevor ich einschlafe.

Früh am nächsten Morgen ruft das Krankenhaus an und informiert mich darüber, dass ich meinen Vater schon besuchen kann.
Also fahre ich ohne gefrühstückt zu haben ins Krankenhaus und kaufe vorher noch Schokolade für ihn.
Meine lauten Schritte hallen in dem Gang wieder, der leer ist. 'Zimmer 367' hat die Frau an der Rezeption gesagt und dabei ganz sehnsüchtig einen Blick auf die Pralinen geworfen. 'So eine Tochter hätte ich auch gerne.', hat sie dann noch hinzugefügt und weil ich total überrascht war und nicht wusste, was ich sagen soll, bin ich einfach schnell weggelaufen.
Jetzt bleibe ich vor einer weißen Tür stehen und lege meine Hand auf den Türgriff.
Einen kleinen Moment zögere ich, doch dann mache ich die Tür einen Spalt breit auf und schaue meinen Vater an, der sein Gesicht zu mir dreht und ein Lächeln darauf erscheinen lässt.
Wie kann der jetzt noch lächeln? Er hat beinahe mein ganzes Leben zerstört!

Ich mache einen großen Schritt in das Zimmer und schließe die Tür leise hinter mir.
"Hi", sage ich und setze mich auf den Stuhl neben dem Bett, auf dem mein Vater in einer weißen Decke eingewickelt ist.
Mein Vater streckt seine Hand nach mir aus und ich sehe eine Reihe von Narben darauf. Erschrocken weiche zurück und schmeiße dabei fast den Tisch hinter mir um.
Mein Vater zieht ganz langsam seine Hand wieder zu sich und lässt das Lächeln verschwinden.
"Grace, nicht auch noch du!", flüstert er und ich bleibe auf der Stelle stehen.
"Was meinst du?", frage ich verwirrt.
"Sie hat mich schon verlassen und jetzt willst du es auch?"
Wenn er damit die Abneigung meint, die ich in den letzten Tagen ihm gegenüber gezeigt habe, dann kann ich ihn für echt verrückt abstempeln. Ist doch klar, dass ich es nicht toll finde, wenn mein Vater sich umbringen will und deshalb auf Abstand gehe.
"Ich will dich nicht verlassen, aber..."
Ich suche nach richtigen Worten.
"Aber?", fragt mein Vater neugierig.
Ich bin gerade dabei, mich wieder hinzusetzen, als sein T-Shirt runterrutscht und eine große, rote Wunde an seinem Hals aufdeckt.
Mit einem Schrei weiche ich mehrere Schritte zurück und klammere mich an dem Tisch fest, den ich gerade vorhin fast umgeschmissen hätte.

Er ist gestört! Mein Vater ist gestört! Er wollte sich mehrmals umbringen! Und ich soll damit klar kommen?
"Ich...kann das nicht", sage ich und stolpere rückwärts zur Tür, reiße sie auf und mache sie schnell wieder hinter mir zu.
Total überrumpelt lehne ich mich gegen die Tür und atme einmal tief ein und aus.
Damit hätte ich doch rechnen müssen!
Über mich selbst schockiert, schüttele ich den Kopf.
Dann stoße ich mich von der Tür ab und verlasse zügig das Krankenhaus.

Die zehnte GabeWhere stories live. Discover now