Der Junge im Baum (2)

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Ich stolpere zurück, knalle mit dem Bein gegen den Schreibtisch. Der Ruck lässt ein Zittern durch meine Pflanzen fahren, die Gießkanne fällt um und spritzt Wasser über die Tischplatte. Langsam bahnt es sich seinen Weg über mein Mathebuch und tropft dann von der Kante auf meine Socken. Ich bewege mich nicht von der Stelle. Mein Blick ist auf die Schattengestalt geheftet, die sich jetzt in einer einzigen Bewegung vom Baum auf meinen Fensterrahmen schwingt.

„Komm nicht näher!", schreie ich, und meine Stimme zitterte dabei genauso wie meine Beine. Mit einer Hand taste ich den Schreibtisch ab, bis ich das Kunstlineal aus Metall zu fassen bekomme. Ich halte es vor mich ausgestreckt wie ein Schwert. Für die andere Hand schnappe ich mir einen kleinen Kaktus. „Ich bin bewaffnet!" Die Worte klingen selbst in meinen eigenen Ohren lächerlich. Ich mache jetzt wahrscheinlich auch nicht den furchteinflößendsten Eindruck, mit einem Kunstlineal in der zitternden Hand und durchgeweichten Kuschelsocken.

Von der Gestalt kommt ein leises Lachen, aber sie hebt die leeren Hände. „Easy, Mädchen. Ich tue dir nichts."

Hmm. Klingt ähnlich beruhigend wie das Der beißt nicht eines Hundebesitzers.

Bevor ich entschieden habe, ob ich jetzt besser rennen oder kämpfen soll, springt der Schatten vom Fensterrahmen und landet in meinem Zimmer.

„Hey!" Mehr bekomme ich nicht raus. Der Junge steht auf und schüttelt sich die Locken aus dem Gesicht, noch immer grinsend. Dann macht er einen Schritt in meine Richtung. „Zurück!" Ich fuchtele mit dem Kaktus. „Eine falsche Bewegung und..."

Das Grinsen in seinem Gesicht wird nur noch breiter. „Sie haben mir nicht gesagt, dass du aggressiv bist."

Ich glaube, mein Ausdruck ist an Dämlichkeit nicht mehr zu überbieten. Wer sind sie? wäre an dieser Stelle die richtige Gegenfrage gewesen. Aber die stelle ich nicht. Natürlich nicht. Stattdessen: „Ich bin nicht aggressiv! Sie sind hier der Einbrecher! Seien Sie froh, dass ich noch nicht zugeschlagen habe!"

„Du musst mich wirklich nicht siezen. Wir sind fast im selben Alter. Was dagegen, wenn ich zu Englisch wechsle? Mein Deutsch ist nicht so gut. Und schrei nicht so, sonst läuft gleich das ganze Haus zusammen", fügt er hinzu, jetzt schon auf Englisch. Er seufzt und streckt den Arm aus, um das Fenster zu schließen. „Du hast ja Recht. Normalerweise kommt Besuch durch die Tür. Aber ich konnte nicht wissen, wie deine Eltern reagieren. Sie kennen mich ja nicht."

„Ich kenne dich auch nicht!" Nach wie vor halte ich das Lineal vor mir ausgestreckt. „Was willst du hier? Wer hat dich geschickt?"

„Ah, endlich die richtigen Fragen." Wieder grinst er. „Eins nach dem anderen, ja? Ich bin Mortimer."

Mortimer? Nicht unbedingt ein häufiger Name in Deutschland. Aber was heißt das schon, in einer Zeit, in der Eltern ihre Kinder nach wirklich allem benennen. Von Star Wars Figuren bis zu europäischen Großstädten. „Wie der Kerl aus Maria Stuart?"

Maria- was?"

„Nicht so wichtig." Offenbar müssen sie da, wo er herkommt, keinen Schiller in der Schule lesen. „Hast du auch einen Nachnamen?"

„Nenn mich einfach Mo, okay?" Für einen Moment wirkt er irritiert, als hätte ich etwas falsches gesagt, aber er fängt sich schnell wieder. „Du bist Lina, richtig? Demetra hat's mir gesagt."

Langsam lasse ich das Lineal sinken. Es klackert ein bisschen, als es die Tischplatte berührt. Demetra. Ein Teil von mir hat sich gewünscht, diesen Namen nie wieder zu hören. Mein Hirn kann sich im Halbschlaf manchmal echt crazy Dinger ausgedenken. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Episode auf dem Friedhof eine Erfindung meines Unterbewusstseins gewesen wäre. Aber da ist auch noch ein anderer Teil in mir. Der Teil, der gewusst hat, dass es echt war. Der es sich vielleicht sogar gewünscht hat. Und der Teil ist gerade wie elektrisiert. „Scheiße. Dann war es wirklich kein Traum?"

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