In the bleak midwinter (3)

476 64 13
                                    

„Also, aus Linas Klasse bist du nicht?" Ich seufze, als mein Vater Mo mit der hundertsten Frage im besten Deutsch-Englisch bombardiert. „Ich hab dich auf keinem Schulfest gesehen."

„Nein." Mo lächelt noch immer tapfer. „Wie Lina bereits gesagt hat, bin ich erst seit einem halben Jahr in Deutschland. Austauschprogramm." Ein bisschen bewundere ich ihn dafür, wie gut er schauspielern kann. Vor allem, weil ich weiß, wie es unter seiner Fassade aussieht, dass er sich am liebsten vor Sorge die Nägel abkauen würde. Stattdessen sitzt er jetzt hier mit meiner Verwandtschaft unter dem Weihnachtsbaum und wird von meinem Vater ausgequetscht wie eine Zitrone. Und das alles, während die Box im Hintergrund Weihnachtslieder dudelt, als seien wir die Protagonisten in einem Kitschfilm (seit Glasschneidestimme erfahren hat, dass Mo aus England kommt, hat sie zur Irish Christmas Playlist gewechselt).

„Lina und ich haben aber ein gemeinsames Hobby", sagt Mo.

Ich gluckse, kann es aber gerade noch mit einer großen Gabel Rosenkohl ersticken. Gemeinsames Hobby. So kann man es auch nennen...

„Ach, du gärtnerst?", fragt Glasschneidestimme freundlich.

„Ja...?" Mo wirft mir einen Seitenblick zu. Ich nicke kaum merklich. „Ich meine: Ja! Gärtnern, genau. Ganz große Leidenschaft. Ich-" In diesem Moment trällert der Chor im Hintergrund seine letzten Töne. Ein neues Stück beginnt, vorgetragen von einer Sängerin, deren Stimme an Enya erinnert. In the bleak midwinter.

Mos Blick wird auf einmal merkwürdig leer, als würde er uns gar nicht mehr richtig sehen. Sein Lächeln wirkt schief, wie vom Gesicht gerutscht.

„Alles in Ordnung?", frage ich, meine Gabel schon auf halben Weg zum Mund.

„Das Lied." Mos Stimme ist kratzig. „Es-"

Glasschneidestimme strahlt vor Begeisterung. „Gefällt es dir?" Mos Unterton hat sie offenbar überhört. „Es ist eines meiner Lieblingsweihnachtslieder."

Mo schluckt. „Eleanors auch."

„Oh." Langsam scheint es Glasschneidestimme zu dämmern. Ihre Stimme wird weich, fast vorsichtig. „Eleanor ist deine Mutter, stimmt's?"

„Ja. Schätze, so kann man es sagen."

Ich spüre, wie mir das Stück Rosenkohl, an dem ich gerade gekaut habe, im Hals stecken bleibt. Rasch schnappe ich mir mein Wasserglas und spüle nach, auch -oder vor allem-, um nicht Teil dieser peinlichen Stille zu werden, die sich gerade am Tisch ausbreitet.

Egal wie viel ich trinke, der Klos in meinem Hals verschwindet nicht. Mos letzte Worte schwirren in meinem Kopf herum. Ich wusste ja, dass er und Eleanor eine enge Beziehung zueinander haben, aber ...Wie blind war ich eigentlich? Mo ist im Kolleg aufgewachsen, natürlich würde er sie als Mutterersatz sehen. Hat er mir das gestern nicht mehr oder weniger so gesagt? Und Eleanor auch, in der Nacht des Rebellenangriffs? Ich kann mir nicht ausmalen, wie Mo sich im Moment fühlen muss. Und dann war ich vorhin so kratzbürstig zu ihm.

Mo wirkt noch immer in Gedanken verloren und Glasschneidestimmes Gesicht hat diesen besorgtes-Kleinkind-Mitleidsausdruck angenommen, den ich so hasse. Irgendjemand muss die Spannung brechen, bevor ich dran ersticke. Und kann bitte einer dieses verdammte Lied ausmachen?

Zu meinem Leidwesen ist es mein Vater, der versucht, das Thema zu wechseln: „Wie lange seid ihr denn schon zusammen, du und Lina?"

Ich pruste vor Schreck in mein Wasserglas, dass die Spritzer über den ganzen Tisch fliegen. „Papa!" Natürlich werde ich wieder rot. „Das ist peinlich!"

Mo reicht mir eine Serviette. Er schmunzelt. Im Gegensatz zu mir wirkt er ziemlich gelassen, vielleicht ist er sogar dankbar für die Ablenkung. „Ich hab nicht genau Buch geführt", sagt er locker, „Ne Weile?"

Glasschneidestimme öffnet den Mund, aber ich schiebe geräuschvoll meinen Stuhl zurück und schneide ihr das Wort an. „Danke für das Essen. Mo und ich müssen jetzt los und schauen wie es ....seiner Familie geht. Bis heute Abend bin ich wieder da, ja?"

„Dann aber wirklich!", sagt mein Vater. „Mareike und ich wollen noch was mit dir besprechen. Sei pünktlich!"

„Bin ich doch immer!" Mit diesen Worten schleife ich Mo, der gerade noch seine Jacke vom Stuhl angelt, am Ärmel zur Tür.

„Danke für alles!", ruft er noch über seine Schulter, „Hat mich gefreut, Sie kennenzulernen!"

„Wehe, du lachst." Ich drehe mich nicht um, während ich mit Mo im Schlepptau durch das Treppenhaus laufe und mein Portalbuch hervorziehe, aber ich fühle sein breites Grinsen auch so. „Ernsthaft, ich boxe dich!"

Wenn ich damals schon gewusst hätte, was uns in Fabelreich erwartet, hätte ich mir in genau diesem Moment auf die Zunge gebissen. Ich hätte Mos Lachen genossen, die letzte, unbeschwerte Fröhlichkeit. Aber es ist nun mal die Eigenart des Lebens, dass man nur zurück, nicht voraus schauen kann. Und wie, um alles in der Welt, hätten wir wissen sollen, was auf uns zukam?

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt