Alter Wald, neue Wünsche (2)

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Zuerst denke ich, dass ich mich irre. Wenn man lange kalte Füße hat, bekommt man nach einer Zeit das Gefühl, sie würden brennen. Aber ich merke schnell, dass diese Wärme anders ist. Fast, als hätte jemand den Föhn eingeschaltet. Heiße Luft schlägt mir ins Gesicht und trocknet meine Lippen aus. Die Zweige der Bäume schaukeln in der warmen Briese. Und es bleibt nicht bei einer Brise. 

„Was ist denn jetzt los?", schreit Mo von vorne, als der Wind stärker wird. Ich kann ihm nicht antworten, der Sturm nimmt mit den Atem. Eine Böe reißt mir die Mütze vom Kopf, ich sehe gerade noch wie sie zwischen den Ästen verschwindet, bevor mir meine eigenen Locken ins Gesicht peitschen und ich die Augen zukneifen muss. Mein Kopf kann nur einen Gedanken formen: Bitte, bitte, lass es aufhören.

Und schließlich...

... hört es auf. Der Wind ebbt ab. Von irgendwoher zwitschern wieder Vögel, begleitet vom sanften Blätterrauschen. Durch meine geschlossenen Lieder dringt orangenes Licht, wärmt meine gefrorene Nasenspitze. Moment mal. Blätterrauschen? Wärme?

Ich reiße die Augen auf.

Es ist wie im Theater, wenn er Vorhang aufgeht. Die Szene hat sich komplett verändert. Wo kurz vorher noch strenger Winter geherrscht hat, erstreckt sich jetzt ein bunter Herbstwald. Die kahle graue Säulenhalle ist verschwunden. Über unseren Köpfen verzweigen sich die Äste der Bäume wie lebendiges Strebewerk und tragen einen wogenden rostroten Baldachin. Die Luft riecht nach sonnengewärmter Erde, überall summt es und flirrt von feinen schwebenden Spinnennetzen, als hätten in der Nacht zuvor Elfen hier gefeiert und im wilden Tanz ein paar Haare verloren.

„Du!" Mo dreht sich zu mir um und noch in der Bewegung wechselt sein Gesicht von Verwirrung zu Schock. „Das warst du! Du hast dir etwas gewünscht."

Eigentlich habe ich schon den Mund aufgemacht, um ihm zu wiedersprechen, aber sein letzter Satz lässt mich aufhorchen. Ich schlucke meine Worte runter und würge neue hervor. „Ja. Verdammt, ich wollte einfach, dass es wärmer wird." Mo kneift die Augen zusammen und mein Magen macht einen kleinen Salto. „War das schlimm?"

„Nein", sagt Mo auch wenn seine Stimme eher nach dem Gegenteil klingt, „Es ist bekannt, dass der geteilte Wald Wünsche erfüllt. Nur ist er normalerweise, naja. Selektiver bei seiner Auswahl."

„Heißt, ich bin nicht würdig genug?" Ich lege eine extra schwülstige Betonung auf das Wort würdig. Schließlich war Mo es, der mit selektiv angefangen hat.

„Nicht würdig im Sinne, dass du keine Priora bist. Demetra hätte vielleicht die Jahreszeit ändern können, aber du? Das ist ungewöhnlich. Mehr als ungewöhnlich."

„Vielleicht mag mich der Wald einfach." Direkt vor meinen Füßen schieben sich neue Blumen aus dem toten Laub. Ich kenne sie nicht, es muss wohl eine spezielle Fabelreichzüchtung sein, aber sie sehen aus wie dunkelviolette Krokusse. „Oder er will nicht, dass wir hier erfrieren, schon mal daran gedacht?"

Mo seufzt nur und lässt zuerst seinen Rucksack, dann sich selbst auf den Boden sinken. „Mir soll's recht sein. Machen wir eine Pause."

Ich setze mich neben ihn, bequem eingebettet zwischen den Wurzeln einer uralten Eiche, die so breit sind wie mein Arm. „Was glaubst du, wie lange brauchen die Rebellen, bis sie uns finden?"

Mo hat den Kopf gegen den Stamm gelehnt und die Augen geschlossen. „Ich denke, sie beobachten uns schon die ganze Zeit."

Wie von selbst huscht mein Blick über die Äste und das bunte Laub. In meiner Vorstellung sind die Rebellen in grüne Kapuzenumhänge gekleidete Waldläufer, die sich hoch oben in den Bäumen verstecken, lautlos fortbewegen und aus der sicheren Deckung heraus Pfeilspitzen in unsere Richtung schieben. Es ist ein mulmiger Gedanke, dass uns schon von irgendwoher feindliche Augen bespitzeln. Im Herbstlaub kann man sich viel besser tarnen als im Winter, wenn der Wald bis auf die Knochen entkleidet ist. Womöglich war mein Wunsch nicht ganz so klug.

„Mach dir keine Gedanken." Mos Stimme ist langsam und schwerfällig, er scheint kurz davor, wegzudösen. „Sie sollen uns finden."

„Ich weiß." Trotzdem finde ich den Gedanken, von Pfeilen durchbohrt oder gefangen in einem Netz über dem nächsten Ast zu baumeln nicht ganz so prickelnd.

Aber ich bin selbst müde. Meine Augenlieder werden schwer und auf einmal merke ich wie viel Kraft es mich kostet, sie noch offen zu halten. Mein Kopf wirkt wie leergefegt, wunderbar gedankenlos. Gegen ein kleines Nickerchen hätte ich jetzt nichts einzuwenden.

Ich strecke meine Beine aus und achte darauf, den violetten Krokus nicht plattzumachen, der an meinem Fußende gerade seine Blüte öffnet. Dabei stößt er einen feinen Pollen aus, begleitet von einem angenehm süßen Duft. Zumindest wirkt er am Anfang noch angenehm. Je mehr ich davon einatme, desto greller wird er. Künstlich, wie eine billige Duftkerze. Schwindelig machend, fast schon giftig süß.

Giftig süß?

Giftig...?

Ich reiße die Augen auf. Vor uns erstreckt sich mittlerweile ein ganzer Teppich aus lila Krokussen. Einer nach dem anderen ploppen sie auf und stoßen ihre Pollen in die dunstige Luft. Und es werden mehr.

„Mo!" Ich rüttle an seiner Schulter, plötzlich alarmiert. „Wach auf!"

Seine Stimme klingt verschlafen. „Was ist denn-?"

„Sind die giftig?"

Mo folgt meinem Blick und seine Augen werden groß. „Weg hier! Schnell!"

Wir rappeln uns auf, stützen und halten uns gegenseitig. Es ist schwerer als gedacht. Mein Kopf ist leicht, aber meine Arme und Beine sind plötzlich wie Blei. Das letzte Mal, dass ich mich so schwerfällig gefühlt habe, war bei einem Tauchkurs am Meer, als ich mich in voller Tauchmontur über den Strand geschoben habe.

Lange kann ich so nicht laufen. Wenn überhaupt stehen.

Wie müssen von diesen Blumen weg. Mir ist schwindelig, mein Kopf lechzt nach frischer, klarer Luft. Mo und ich machen ein paar Schritte, mehr taumelnd als gehend.

Nein!

Unsichtbare Ranken schließen sich um meine Knöchel, zwingen mich in die Knie. Meine Lieder sind schwer. So schwer. Irgendwo in der Ferne höre ich Mo schreien. Ich habe seine Hand verloren. Aber was macht das schon?

Du musst schlafen. Einfach schlafen, dann wird alles besser.

Da ist eine andere Stimme in meinem Ohr. Schwächer und weiter weg. Was ist mit Eleanor? Und den Rebellen? Etwas sagt mir, dass mich diese Fragen einmal beschäftigt haben. Einst, vor langer Zeit in einem anderen Leben.

...du musst schlafen...schlafen...

Mein Kopf sinkt auf die Blätter.

...schlafen, schlafen...

Kurz bevor ich wegdämmere, sehe ich das Schwert über meiner Stirn.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt