In the bleak midwinter(1)

708 83 42
                                    

Wir rennen durch die Dunkelheit.

Unter unseren Füßen schmatzt der Schnee, mehr als einmal rutsche ich weg, aber ich denke gar nicht dran, langsamer zu werden. An meiner Seite kann ich Mo und Eleanor hören, ihr Atem genauso keuchend wie meiner. Demetra ist uns jetzt schon ein ganzes Stück voraus.

In Anbetracht der Lage hat sie bemerkenswert schnell regiert. Noch immer hallt ihre Stimme in meinem Kopf. Nur jemand, der sie kennt, hätte die Panik herausgehört: Wo?

Nachdem Karla ihren stotternden Bericht abgegeben hat, ist Demetra sofort losgelaufen. Nur die Alumni und einige ausgewählte Mitglieder der Kollegien durften sie begleiten.

Zuerst hat Alumni Eric noch Einwände erhoben: Was ist mit Eleanor?

Was soll mit ihr sein? Demetra klang gereizt, Sie kommt mit. Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass sie irgendwas damit zu tun hat. Das Mädchen steht unter Schock. Sie sieht Gespenster.

Ich hoffe wirklich, dass Demetra Recht hat. Während wir über den Rasen zur Bucht eilen, versuche ich einen Blick mit Eleanor zu wechseln, irgendein Zeichen von Sorge oder Verwirrung zu erkennen, aber ihre Miene ist wie versteinert, ihre Augen starr nach vorn gerichtet.

Endlich wird die Schneedecke löchriger, das Gras geht in feine Kieselsteine über. Sand knirscht unter meinen Schuhen, dämpft meine schweren Schritte.

„Halt!" Ich knalle gegen einen Widerstand und stoppe mitten im Lauf. Mo hat den Arm ausgestreckt, hält mich zurück.

„Was soll das?"

„Überleg dir genau, ob du das sehen willst" Seine Worte klingen angespannt. „Du wirst es vielleicht nie mehr vergessen."

Ich folge seinem Blick. Ein paar Meter vor uns, dort,wo die Wellen an den Strand spülen, wirft sich Demetra im nassen Sand auf die Knie. Neben ihr ragt ein Felsen aus dem Wasser. Davor, zuerst habe ich es für einen kleineren Stein gehalten, liegt eine dunkle Gestalt. Eine menschliche Gestalt.

„Reigen!" Demetras Schrei ringt in meinen Ohren, schrill und verzweifelt. So habe ich sie noch nie gehört. Eine Gänsehaut überzieht meine nackten Arme. „Nein!" Demetra packt die reglose Gestalt an den Schultern, hebt sie hoch und schüttelt sie. „Mach die Augen auf! Reigen, mach die Augen auf!" Mehr und mehr gehen ihre Worte in Flehen über.

Auch die Alumni knien jetzt neben Demetra und verdecken die Sicht. Mo läuft zu ihnen, aber ich kann einfach nur dastehen und starren.

Wie von selbst mache ich einen Schritt zurück.

Mo hat Recht. Ich weiß nicht, ob ich sehen will, was da vorne im Sand liegt. Mit einem Schlag wird mir klar, wie erschreckend wenig Erfahrung ich mit dem Tod habe. Selbst bei Krimis schaue ich weg, sobald es zu krass wird. Ich war schon immer ein extrem visueller Typ, dem sich Bilder förmlich in die Netzhaut brennen. Manchmal reicht ein einziger Film, damit ich nächtelang nicht einschlafen kann. Und das sind nur erfundene Geschichten, keine echten Morde.

Mein Mund ist trocken und mein Herz schlägt zu schnell. Auch ohne diese ganze psychosomatische Scheiße weiß ich, dass ich gerade verdammt Angst habe. Ich könnte warten, in sicherer Entfernung, bis mir einer sagt, was los ist. Vermutlich sollte ich sogar besser zurück ins Kolleg gehen. Ich kann hier ohnehin nichts tun. Ja. Vermutlich wäre das klug. Vermutlich wäre es vernünftig. Aber...seien wir mal ehrlich...

Wann habe ich in letzter Zeit jemals vernünftig gehandelt?

Es wundert mich schon nicht mehr, als sich meine Beine wie von selbst in Richtung Strand bewegen. Nach einer gefühlten Ewigkeit stehe ich endlich hinter den Alumni und schaue über Demetras Schulter auf die Gestalt am Boden.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt