Wo Schatten, da auch Licht (1)

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„Also, ich mag dich trotzdem noch", schmatzt Roxy, den Mund voller Brokkoli und fuchtelt mit ihrer Gabel vor meinem Gesicht herum.

Wir sitzen beim Mittagessen am Tisch der Lehrlinge. Das Refektorium ist heute ziemlich leer, nur ein paar dutzend Wächter verteilen sich auf die Tische, aber trotzdem kann ich von allen Seiten Blicke spüren. Blicke, die sich rasch senken, sobald ich mich umdrehe und in den Raum schaue. Es hat sich schnell herumgesprochen, dass die neue Wächterin zum Kollegium der Schatten gehört und die Reaktionen waren, naja, sagen wir, nicht gerade euphorisch. Nach außen hin sind alle höflich zu mir, aber etwas hat sich verändert. Egal wohin ich im Kolleg gehe, jeder hält Abstand. Ich spüre die Distanz sogar in Gesprächen. Sie belauern mich wie ein wildes Tier, bei dem man jede Sekunde damit rechnen muss, dass es einen anfällt. Die einzige, die davon unberührt scheint, ist Roxy. Jetzt dreht sie die Gabel von meinem Gesicht weg und deutet auf ihre Sitznachbarin gegenüber: „Faustia, sag doch auch mal was."

Das Mädchen zuckt nur mit den Schultern. „Wie du weißt, halte ich grundsätzlich nichts von Gerüchten", sagt sie ruhig, ganz so als bräuchte es weit mehr als diesen kleinen Skandal am Kolleg, um sie aus der Ruhe zu bringen. „Außerdem gibt es im Moment wichtigere Probleme. Wir haben erst letzte Woche im Geteilten Wald aufgeforstet und schon wieder sind alle Wurzeln von Kobolden angeknabbert. Ich hab ihnen gleich gesagt, dass wir einen Schutz bauen müssen. Aber auf den Lehrling hört ja keiner."

Faustia gehört zum Kollegium der Erde und das merkt man, wenn man sie ansieht. Nicht nur, dass sie unter ihren Fingernägeln grundsätzlich den halben Waldboden mit sich herumträgt. Seit ich sie kenne, hat sie nicht einmal etwas anders als knittriges Leinen angehabt. Ihre Haare sind auf der rechten Seite abrasiert. Nur eine geflochtene Strähne mit eingewobenen Steinchen und Silberringen hat sie übrig gelassen. Außerdem redet sie mit einer Leidenschaft über magische Pflanzen, dass ich neidisch werde.

Warum kann ich nicht in ihrem Kollegium sein? Wo ist bitte der Unterschied zwischen uns? Gut, ich habe nicht Faustias Gelassenheit. Aber trotzdem! Das ist einfach unfair. Ernsthaft, ich fühle mich wie Harry Potter unter dem sprechenden Hut. Nur, dass ich statt nach Gryffindor nach Slytherin sortiert wurde.

„Lass die anderen einfach reden, Lina", sagt Faustia zu mir, „Das beruhigt sich schon wieder. Und wenn nicht, dein Kollegium kann dir schon sagen, wie du damit fertig wirst. Mo ist schließlich auch ganz beliebt."

Mein Kollegium. In den letzten Tagen habe ich weder von Eleanor noch von Mo irgendein Wort gehört. Zugegeben, ich habe den Weg in ihr Stockwerk auch vermieden. Es fällt mir immer noch schwer, zu begreifen, dass diese düsteren Flure mein neues Zuhause sein sollen.

„Hey!", Roxy rüttelt an meinem Teller, „Jetzt iss endlich mal was! Sorgen werden mit leerem Magen auch nicht leichter."

Ich sehe auf meine unberührten Tortellini hinunter. In meinem Hals steckt ein dicker Kloß.

„Warum hassen alle das Kollegium der Schatten so?", frage ich die beiden, „Macht mein Talent mich vielleicht irgendwann blutrünstig oder verrückt? Wäre nett, wenn mir das jemand sagen könnte, bevor es zu spät ist."

„Keine Ahnung, ehrlich." Faustia und legt ihr Besteck zur Seite, „Eleanor wirkt immer ein bisschen schlecht gelaunt. Aber jetzt, wo du's sagst. Ich hab weder sie noch Mo jemals ihr Talent nutzen sehen. Du, Roxy?"

„Nö. Ich glaube, da gab es was in der Vergangenheit. Die älteren Wächter reden nicht gern darüber. Sie warnen uns immer nur. Am besten fragst du Eleanor selbst. Du siehst sie doch eh gleich."

Das ist der eigentliche Grund für den Kloß in meinem Hals. Allein beim Gedanken daran, dass ich gleich allein ins Kollegium der Schatten hinaufsteigen muss, um mir von Eleanor den Umgang mit meinen neuen Kräften zeigen zu lassen, lässt mir ziemlich flau im Magen werden. Die Unterrichtsstunden bei Demetra über die Geografie, Flora und Fauna von Fabelreich sind immer recht lustig. Da bin ich ja auch mit Roxy und Faustia zusammen. Das Einzelcoaching hat allerdings jeder für sich in seinem Kollegium.

FabelblutWhere stories live. Discover now