Im Auge des Sturms

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Einmal ist mir im Sportunterricht eine Weichbodenmatte auf den Rücken gefallen. Ich saß an der Wand, als das Ding sich plötzlich aus seiner Haltung gelöst hat. Damals dachte ich, das war's. Der Aufprall hat mir die Luft aus den Lunge gepresst. Ich weiß noch, wie ich am Boden gelegen bin, vollkommen geschockt, über mir die besorgten Gesichter meiner Mitschüler und nach Luft gerungen habe, die nicht kommen wollte.

Genauso fühle ich mich jetzt.

Demetras Finger schließen sich um den Griff des Dolches. Ihr Mund formt ein verblüfftes O. Im gleichen Moment beginnt sie, am ganzen Körper zu zittern.

„Lass das Messer stecken!" Eleanor reißt sich von Nicolas los. Noch bevor Demetras Beine nachgeben ist sie an ihrer Seite, schlingt die Arme um sie, hält sie fest. „Nicht rausziehen. Bleib ruhig. Ganz ruhig." Sie sinkt in die Knie, lässt Demetra vorsichtig zu Boden gleiten. Dabei hält sie ihren Oberkörper aufrecht, damit die Klinge nicht noch tiefer eindringt. „Die Wunde ist nicht tödlich. Wenn das Messer drin bleibt, verblutest du nicht."

Demetra sieht zu ihr auf. Ihre Lippen zittern. Ich habe keine Ahnung, warum, ob vom Schock, Schmerz oder Kreislauf. Allerdings habe ich bis jetzt auch noch kein Messer in den Rücken bekommen. „Es tut mir leid." Ihre Stimme ist heiser, aber immerhin ist sie überhaupt noch da. Ich nehme das mal als gutes Zeichen. Heißt zumindest, ihre Lunge ist nicht betroffen. „Ich habe alles falsch gemacht."

„Das ist doch jetzt völlig egal!" Eleanors Stimme zittert fast genauso schlimm, aber bei ihr kommt es wohl eindeutig vom Schock.

Schock ist es auch, was den Rest der Halle lähmt. Mit einem Schlag haben alle Kämpfe aufgehört. Irgendwo hinter den Säulen sehe ich Eric, das Entsetzen wie eingefroren in seinem Gesicht. Constanze hat eine Hand vor den Mund und die andere auf ihr Herz gepresst. Selbst Damon wirkt überrascht. Seine Augen kleben auf Demetra und Eleanor, als sei er ein Kinozuschauer, gierig, nichts zu verpassen. Mortimer ist nirgends zu sehen.

„Du hattest Recht." Demetras Worte hallen als geisterhaftes Echo durch die stille Kirche. „Und ich habe versagt. Nicht nur als Priora."

Eleanor schüttelt den Kopf. „Später. Hör jetzt auf. Du brauchst deine Kraft. Jemand wird Hilfe holen. Wir kriegen das wieder hin-"

„...ich habe es versprochen. Geschworen, Eleanor. Dich... schützen..."

„Demetra, bitte!"

„Gib mir deine Hand." Sie hebt ihren Arm, mit geschlossener Faust und Eleanor nimmt sie. Ihre zitternden Finger verflechten sich. Dann sackt Eleanors Arm plötzlich ein Stück nach unten, als Demetras etwas Schweres in ihre Hand fallen lässt. Eleanor öffnet die Finger, langsam wie eine Blüte und starrt auf den Gegenstand in der Mitte ihrer Handfläche. „Nein." Sie hebt den Blick. „Nein!"

Über Demetras Mundwinkel huscht der Schatten eines Lächelns. „Ich habe es versucht, Eleanor. Den Kampf zu kämpfen. Ich habe verloren."

„Hast du nicht!" Eleanor packt sie so energisch am Kragen, dass sie Demetra gefährlich durchschüttelt. „Hör auf so zu reden! Du wirst wieder-!"

„Es gibt Zeiten, da braucht die Welt Heilung. Den Sanftmut der Gärtner. Und es gibt Zeiten,  da kommt man mit Sanftmut nicht mehr weiter." Ihre Worte werden mühsamer, schwächer. „Kein Frühling dauert ewig. Wir haben jetzt Winter, Eleanor. Tiefsten Winter. Diese Welt braucht keine Gärtnerin mehr. Sie braucht Krieger." Ohne hinzusehen schließt Demetra Eleanors Finger wieder um den Gegenstand. Sachte, aber mit Nachdruck. „Mein Lauf ist vollendet. Das Rennen nicht." Ihre Stimme wird leiser, kaum noch ein Wispern. „Das Rennen, Eleanor. Dein Rennen..." Demetra verstummt. Sie schaudert, sträubt sich, überstreckt den Hals. Dann wird sie still. Ihr Kopf sackt zur Seite, kippt nach hinten über Eleanors Arm. Ich sehe ihr Gesicht im Profil, merkwürdig schwerelos, nur am Hals gehalten von Eleanors Armbeuge. Ihre geschlossenen Augen. Ihre Lippen, leicht geöffnet, als hätte sie gerade ausgeatmet.

Zuerst kapiere ich es gar nicht.

Es gibt Momente, die so grotesk sind, dass sie einem schon nicht mehr real vorkommen. Genau wie damals im Sportunterricht, als mir die Matte die Luft aus den Lungen gepresst hat. Ich spüre meinen Körper nicht mehr, kann ihn nicht mehr kontrollieren. Wenn er überhaupt noch da ist. Es fühlt sich eher so an, als würde ich neben mir stehen. Irgendwo weit weg. Ein Zuschauer. Nicht mehr Teil des Geschehens.

Es braucht Constanzes Schluchzen und Nicolas, der sich an einer Säule abstützen muss, bis es wirklich bei mir ankommt.

Ich habe noch nie einen Menschen sterben sehen.

„Demetra!" Eleanor beugt sich über sie, nimmt ihr Gesicht in beide Hände. Fährt ihr mit den Daumen über Wange. Schüttelt sie. „Nein!"

Ich möchte weinen, wirklich. Meine Kehle wird eng, schnürt mir die Luft ab. Aber keine Tränen kommen.

In Gedanken wandere ich zurück, zum Tag im Museum, als ich im Starbucks Michelangelos Pieta gegoogelt habe. Die Berühmte Skulptur Marias, die ihren toten Sohn im Arm hält. Wie hieß es in der Beschreibung? Ein Archetyp menschlichen Dramas.

 Jetzt ist es Eleanor, die am Boden kauert, inmitten dieser zerstörten Kirche, und Demetras reglosen Körper in den Armen wiegt. Den Kopf an ihr Herz gepresst, fest auf ihre zerschmetterte Rippe, Schmerz auf Schmerz, das eigene Gesicht in einem stummen Schrei zum Himmel erhoben.

Es ist ein anderes Bild, ja. Aber schlimmer, viel schlimmer. Es ist real. Kein Archetyp, sondern Fleisch und Blut.

Welcher Idiot hat eigentlich behauptet, Liebe sei nett? Blumig, süß, rote Rosen. Wahre Liebe ist nicht nett. Sie ist eine brutale Urgewalt. Die schrecklichste Sache der Welt.

Ich werde nie wieder naiv sein können. Nie wieder unbeschwert lieben, ohne an den Tod zu denken. Nicht nach diesem Tag. Etwas von mir ist gestorben, hier in dieser Ruine, ich fühle es bis in meine Knochen.

Seltsam, aber immer, wenn etwas Schreckliches passiert, klammert sich der menschliche Geist an Strukturen. Routinen, Schemata. Ein bisschen Ordnung in all dem Chaos.

Vielleicht erklärt das, warum mir ausgerechnet jetzt, während mir Eleanors Schreie in den Ohren klingeln, die Vier Stufen der Trauerbewältigung einfallen, die ich für die letzte Ethik-Arbeit auswendig gelernt habe. Phase Eins: Leugnung.

Wie lange wird Eleanor wohl in Phase eins bleiben? Die Leiche halten und anschreien, als könnte sie Demetra so zurückbringen?

Sollte nicht irgendeiner von uns irgendwas tun?

Ja, das sollten wir. Hätten wir gesollt. (Und zwar bevor uns Damon Blackwell zuvorkam und Eleanor innerhalb von Sekunden in Phase Zwei: Freiwerdende Emotionen (Wut) katapultierte).

„Die Königin ist tot", sagt Damon, laut hallend in der Stille des Saals. Als Eleanor seinen Blick erwidert, breitet sich ein Grinsen auf seinem Gesicht aus. „Es lebe der König."

Eleanor schaut ihn an. Langsam, ganz sachte, den Kopf zuletzt, wie als könne sie es immer noch spüren, lässt sie Demetras Körper zu Boden sinken. Dann erhebt sie sich, die Faust krampfhaft um den Gegenstand geschlossen, den die Priorin ihr gegeben hat. Ihre Mundwinkel sind ein harter Strich, mit zusammengepressten Lippen starrt sie Damon vor seinem Thron an. Ich bin mir sicher, dass er in diesem Moment alles ist, was sie wahrnimmt. Auf ihrer Handfläche erscheinen Schatten. „Ich bringe dich um", sagt sie ruhig.

FabelblutWhere stories live. Discover now