Das Falsche, Böse und Hässliche (1)

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Ein Gras rauchender Jesus. Ernsthaft?

Meine Oma würde sich im Grab rumdrehen.

Von weiter weg wirkt es wie eine ganz normale Kreuzigungsszene und ich habe mich schon gefragt, was so eine klassische religiöse Darstellung in einer Vernissage über zeitgenössische Kunst zu suchen hat. Erst wenn man näher tritt, sieht man, dass Jesus nicht wie gewöhnlich an seinem Kreuz hängt, sondern daneben steht. Lässig an den Stamm gelehnt, in seinem weißen Gewand, die Sonnenbrille auf der Nase und eine Kippe zwischen den Zähnen. Die Hand hat er dem Betrachter entgegengestreckt und die Finger zu einem Peace-Zeichen geformt. Dazu die Bildunterschrift: Take life easy.

Irgendjemand, vielleicht der Künstler, vielleicht ein begeisterter Fan, hat mit Rotstift dazu gekritzelt: #suchdireinanderesopferalterweißermann#notgonnadieforyou #fuckthepatriachy

Ich lege den Kopf schief. Nein, auch ein Perspektivwechsel macht das Bild nicht schöner.

Aus der Halle neben mir dringt die quietschbegeisterte Stimme meiner Deutschlehrerin: „Denkt dran, ihr sollt euch inspirieren lassen! Ein wahrer Künstler schöpft nicht nur aus seinem Innern, sondern aus der Auseinandersetzung mit anderen Künstlern. Hier habt ihr die besten vor euch. Lasst sie auf euch wirken! Lasst sie etwas in euch auslösen!"

„Na, was löst es in dir aus?", sagt eine spöttische Stimme in meinem Nacken.

Ich habe sie nicht kommen hören. Selbst bei Tag und ohne Schattenumhang kann sie sich lautlos fortbewegen. Als ich den Kopf drehe, steht sie schon neben mir, begleitet von einem Schwall kalter Luft. Heute trägt sie einen weinroten Wintermantel im Trenchcoat-Style. Passend dazu hat sie die Haare zu einem eleganten Demetra-Gedächtnis-Knoten gesteckt. In dem Aufzug geht sie locker als geübte Museums-Besucherin durch.

„Spinnst du, hier aufzukreuzen?", flüstere ich ihr zu und versuche meine Worte möglichst leise möglichst wütend klingen zu lassen. Das Ergebnis ist eher ein Fauchen. „Ich hab Unterricht! Woher weißt du überhaupt, dass ich hier bin?"

Ich habe nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, aber zu meiner Überraschung gibt sie mir eine: „Demetra hat mir deinen Stundenplan gezeigt. Exkursion in eine zeitgenössische Kunstgalerie zum Thema „Helden"? Beeindruckend. Deine Lehrerin scheint sehr", sie zögert, „engagiert."

Ich schnaube nur. „Kein Wunder. Referendarin." Eine Weile schweigen wir, starren gemeinsam auf das Bild vor uns. Ich frage mich, warum sie hier ist. Ob Demetra sie geschickt hat? Verlangt sie, dass wir uns wieder vertragen?

„Das ist also die Kunst unserer Epoche", sagt Eleanor leise, „Nichts neues schaffen, dafür aber das Heilige unserer Vorfahren in den Dreck ziehen. Bemerkenswert ignorant. Als ob wir nicht jedes Quäntchen unserer Kultur ihnen verdanken."

Ignorant, dass ich nicht lache. Sagt die richtige. Irgendwie habe ich plötzlich Lust ihr zu widersprechen, einfach aus Prinzip: „Ich dachte, Kunst soll kritisch sein."

„Es gibt einen Unterschied zwischen Kritik üben und in blinder Arroganz an den Fundamenten rütteln auf denen das eigene Haus gebaut ist. Wer alles verwirft, steht irgendwann mit nichts da. Und das Nichts ist gefährlich. Für die Psyche und die Gesellschaft. Aber ich schweife ab. Also?" Eleanor ahmt in schrecklich treffender Weise die Stimme meiner Deutschlehrerin nach. „Was löst dieses Bild denn in dir aus?"

„Im Moment? Leichten Brechreiz." Ich wende mein Gesicht wieder dem kiffenden Jesus zu. „Bin mir allerdings nicht sicher, ob es an dem Bild oder an dir liegt."

Ich schaue sie nicht an, aber ich weiß trotzdem, dass sie schmunzelt. Eins muss man ihr lassen. Nachtragend ist sie nicht. Wenn man bedenkt, dass ich ihr bei unserer letzten Begegnung gesagt habe, sie soll zur Hölle fahren...

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