Was kein Auge je gesehen

434 56 2
                                    

Noch bevor ich die Augen öffne, schmecke ich es auf den Lippen. Salz, Gischt und die kalte Luft der Küste.

Wir liegen am Strand. An meinem Rücken klebt feuchter Sand. Irgendwo hinter uns kann ich das Meer rauschen hören, das Dröhnen mächtiger Wellen, die sich mit der Kraft der Januarstürme an Land schieben.

Zuhause.

Mein Kopf sinkt tiefer in den Sand, als ich erleichtert ausatme und es ist mir sogar egal, dass ich die Sandkörner unter der Dusche später verfluchen werde. Im Moment bin ich einfach nur dankbar. Mein Herz rast, wie wenn mir die U-Bahn und der Schattenwächter noch immer im Nacken säßen. Erst, als ich mich aufsetze, merke ich, dass meine Arme zittern. Ob vor Kälte oder Erleichterung über den verwundenen Schock kann ich beim besten Willen nicht sagen. Mein Kontakt mit dem Gleisbett von Hounslow West wird sicher ein paar blaue Flecken hinterlassen, aber immerhin scheine ich keine schlimmeren Verletzungen davongetragen zu haben. Schon beängstigend, wie schnell ich solche Dinge mittlerweile wegstecke. Immerhin bin ich gerade fast von einer U-Bahn überrollt worden und habe mich erst in letzter Sekunde durch ein magisches Portal retten können. Da könnte man ja annehmen, ich würde erst mal in einen hysterischen Heulkrampf ausbrechen. Vor ein paar Monaten noch wäre das definitiv der Fall gewesen. Aber scheinbar, entweder durch den häufigen Kontakt zu Eleanor oder den ganzen Krisen um uns herum, bin ich mittlerweile abgestumpft. Ich glaube, so schnell schockt mich nichts mehr.

(Süß. Wie naiv ich doch war.)

„Das war verdammt knapp." Auch Mo sitzt schon wieder. Die linke Hälfte seiner schwarzen Wuschelhaare kleben voller Sand. Er sieht ziemlich mitgenommen aus. „Bist du okay?"

Ich nicke nur. „Sie hat uns gewarnt", sage ich, während ich aufsehe und mir den Sand von der Jeans klopfe. „Eleanor hat prophezeit, dass Damon dich jagen würde."

„Woher sollte er wissen, dass ich in London bin?" Mo fährt mit der Hand durch die Haare, um den Sand loszuwerden. „Er hätte mich gar nicht finden dürfen."

„Aber er hat dich gefunden!" Meine Stimme ist schärfer, als eigentlich beabsichtigt. „Du bist aus Stormglen abgehauen, dem einzigen Ort, wo du vor ihm sicher warst! Kapierst du jetzt, was-"

„Ja, ja. Schon gut. Ich hab's verstanden. Keine Ausflüge mehr in nächster Zeit. Aber das hier bleibt erstmal unter uns. Keinen Bock auf die Wir haben es dir doch gleich gesagt Rede der Alumni."

Gemeinsam steigen wir den schmalen Pfad zwischen den Klippen hinauf. Der Stein ist glitschig von den Regenfällen der letzten Tage und in der Dunkelheit muss ich auf meine Schritte achten. Erst als wir wieder Gras unter den Füßen haben, schaue ich hoch.

Stormglen Manor ragt vor uns in den Nachthimmel, genauso mächtig und herrschaftlich wie immer. Eine Fassade, die allem trotzt, Wind, Wetter und narzisstischen Magiern.

„Home sweet Home", murmelt Mo an meiner Seite. „Hätte nicht geglaubt, so schnell wieder hier zu sein. Wird Eleanor sicher freuen, dass sie am Ende doch noch ihren Willen bekommen hat. Auftrag erfolgreich ausgeführt, Lina."

Ich sage nichts, sondern lenke meine Schritte in Richtung grünes Kollegium. Mos Sticheleien sind eher Ablenkungsmanöver vom Schmerz dahinter, das weiß ich mittlerweile. Vielleicht kommt er zur Vernunft, wenn ich ihn zu Demetra bringe. Sie da liegen zu sehen, auf dem grauen Stein, erstarrt wie tot, bringt ihn vielleicht dazu, seinen Zorn auf Eleanor zu vergessen. Und die wichtigen Dinge in den Blick zu nehmen.

Als die Glaskuppeln des Grünen Kollegiums in Sicht kommen, getaucht in einen sanft fluoreszierenden Schimmer, was ihnen das Aussehen exotischer Tiefseequallen verlieht und mich an Lothlorien bei Nacht erinnert, bleibt Mo plötzlich stehen. Sein Blick ist starr geworden und auf das Gewächshaus vor uns gerichtet.

FabelblutWo Geschichten leben. Entdecke jetzt