Scherbengericht (1)

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In Fabelreich ist der Schnee über Nacht geschmolzen. Nur an einigen schattigen Stellen ist ein matschiger Rest zurückgeblieben und als wir dummerweise in genau so einem landen, reißt es mich fast von den Füßen. Mo kann gerade noch verhindern, dass ich der Länge nach ins Gras fliege.

Er grinst. „Na, das mit der Landung müssen wir aber nochmal üben." Kurios, wie sich seine Laune automatisch bessert, sobald er wieder magischen Boden unter den Füßen hat.

„Lina! Mo!" Roxy kommt über den Rasen auf uns zu gerannt. Fast wäre sie an derselben Stelle ausgerutscht wie ich. Sie muss sich an unseren Schultern festhalten und kommt gerade noch schlitternd zum Stehen. „Da seid ihr ja endlich!"

„Was heißt hier endlich?" Mos Grinsen rutscht von seinem Gesicht. „Demetra hat doch gesagt, wir sollen nicht vor dem Mittag zurück sein."

„Hä?" Roxys Brust hebt und senkt sich, als sie sie einen Marathon gelaufen. Verwirrt schaut sie von Mo zu mir und wieder zurück. „Hat...hat euch keiner was gesagt?"

„Uns was gesagt?" In meinem Magen breitet sich ein flaues Gefühl aus. Es ist das gleiche Gefühl, das ich habe, wenn ich unbemerkt die Abgabefrist für einen Aufsatz verpasst habe. „Jetzt spuck's schon aus!"

„Es geht um Eleanor." Roxy scheint sich sichtlich unwohl in ihrer Haut zu fühlen. Sie meidet Mos Blick. „Die Alumni haben ein Tribunal einberufen."

„Was!?" Mos buschige Augenbrauen haben sich zusammengezogen. Bei ihm immer ein Zeichen von heraufziehendem Ärger. „Und das wollte Demetra uns wann genau sagen? Wenn sie Eleanor verurteilt haben?"

„Sorry, ich wusste doch nicht-"

„Komm!" Mo packt mich am Arm und zieht mich in Richtung Kolleg.

Im Haus empfängt uns gähnende Leere. Ungewöhnlich für diese Tageszeit, wo sich die Erwachsenen sonst zu Kaffee oder High tea im Refektorium versammeln und das Kuchenbuffet plündern.

„Es sind schon alle oben", flüstert mir Roxy zu, als hätte sie meine Gedanken erraten und keucht Mo hinterher.

Wie sich herausstellt ist mit oben der Kapitelsaal gemeint. Ich erkenne den Raum mit seinen Malereien und dunklen Holzvertäfelungen sofort wieder. Hier war ich das letzte Mal am Tag meiner Aufnahme in die Reihen der Wächter. Obwohl es kaum ein Vierteljahr her ist, kommt es mir schon wie eine Ewigkeit vor.

Anders als bei meiner Zeremonie ist diesmal die Hölle los. Auf den Bänken und Tischen drängen sich die Leute und vom Schachbrettboden ist im Gedränge kaum noch was zu sehen. Der Geräuschpegel erinnert an ein Sportevent. Alles, was in Fabelreich Rang und Namen hat, scheint da zu sein.

Mo drängelt sich schubsend und rempelnd durch die Menge. Vereinzelte erntet er empörte Blicke, aber die meisten machen ihm Platz. Ein paar Mädchen rutschen sogar zur Seite, damit wir uns mit Roxy auf die vorderste Bank quetschen können. Dabei verziehen sie die Gesichter wie auf einer Beerdigung. Wenn ich zufällig Blicke mit jemandem in der Menge kreuze, sehe ich vor allem drei Ausdrücke: Mitleid, Angst und - kann das wirklich sein? Vorfreude...?

Mos Augenbrauen haben sich mittlerweile so fest zusammengezogen, dass sie wie ein einziger Strich wirken. Ich wage nicht, ihn anzusprechen.

In diesem Moment wird eine Glocke geläutet. Nach und nach ebben die Gespräche ab, die Zuschauer nehmen ihre Plätze ein. Es ist so surreal. Wie im Theater, kurz bevor die Vorstellung beginnt. Nicht jeder findet einen Sitzplatz. Mehrere dutzend Wächter drängen sich entlang der Rückwand, hinter den Bänken und sogar draußen im Gang.

Die lauten Gespräche sind mittlerweile verstummt und einem verhaltenen Tuscheln gewichen. Oberflächlich scheint alles ruhig und gesittet, aber da ist dieser Grundpegel an fiebriger Nervosität, der meinen Nacken prickeln lässt. Nicht ängstlich, aber gespannt erwartungsvoll.

FabelblutWhere stories live. Discover now