Die Eirenen (5)

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Dad und Mareike schlafen längst, als ich in mein Zimmer schleiche. Wie immer verstecke ich den Umhang der Priorin am Boden meines Kleiderschranks, zwischen dem Motto-T-shirt der letzten Klassenfahrt und meinen Faschingskostümen. Dann falle ich fast sofort ins Bett, schläfrig vom Elfenwein. Der nächste Morgen ist ein Samstag, da kann ich immerhin ausschlafen.

Und genau das tue ich auch. Es ist schon fast elf, als ich zum „Frühstück" ins Wohnzimmer schlurfe. Wie üblich sitzt Dad schon vor seinem Laptop, die dicke Hornbrille ist ihm auf die Nasenspitze gerutscht. Mareike steht am Herd, unter ihr im Ofen backt etwas, das nach Scones aussieht. Mein Verdacht bestätigt sich, als ich die Stimme des englischen Starkochs Jamie Oliver aus einem geöffneten Tablet dringen höre. Offenbar ist Youtube jetzt Mareikes neues Rezeptbuch.

„Erwarten wir die Queen zum Tee?", frage ich mit einem Nicken auf die Scones. Kurz kommt mir der schreckliche Gedanke, meine Mutter könnte sich aus England für einen spontanen Besuch angesagt haben. Bei allem, was mir momentan so um die Ohren flieg, sind krampfige Verwandschaftstreffen jetzt wirklich das letzte, was ich gebrauchen kann.

Zum Glück bringt mich Mareikes freudestrahlendes Gesicht schnell wieder von der Idee ab. „Heute ist doch das Royal Wedding", flüstert sie, als teile sie mir ein wohlgehütetes Geheimnis mit, „Einer der Prinzen von England heiratet."

Ich nicke nur. „Ah." Hinter seiner Hornbrille sehe ich meinen Vater die Augen verdrehen.

Im Fernsehen läuft bereits der Vorbericht zum großen Hochzeitsevent. Gerade interviewt eine Journalistin in zartrosa und einem Hut, der aussieht wie eine halbe Kreissäge, eine sogenannte Adelsexpertin über die Designerwahl des Brautkleides.

Jeden Moment wird die Braut am Portal der Kirche erwartet, erfahren wir.

Mareike scheint es echt ernst zu meinen. Mit einem Sektglas in der Hand lässt sie sich aufs Sofa sinken und stellt lauter.

„Schatz", murmelt mein Vater, ohne aufzusehen, „Findest du nicht, du übertreibst ein wenig?"

„Kein bisschen. In England schaut sich das jeder an."

Hmm. Jeder außer Eleanor, möchte ich wetten.

Der Gedanke lässt mich schlucken. Natürlich schaut sich Eleanor gar nichts mehr an. Aber ich bin sicher, wenn sie könnte, würde sie eher alle Bücher der Welt auslesen, bevor sie mit zwei Frauen in Pastellfarben über Bratkleider rätselt.

„Willst du es dir nicht mit mir anschauen, Lina?", fragt Maraike vom Sofa aus.

„Lass gut sein, Schatz." Mein Dad wirft mir einen flüchtigen Blick zu. „Diese Familie ist ihr doch eh schon peinlich und nervig genug."

„Seid ihr nicht." Dads Kommentar war spaßig gemeint, aber ich nehme ihn bewusst ernst. „Ihr seid nicht nervig. Wir sind jetzt nicht die perfekte Bilderbuchfamilie, aber...es gibt viel schlimmere Familien." Ich denke an Mo und Eleanor, Damon und Margret. „Ich bin froh, dass ich euch habe."

Bei meinen Worten schaut mein Vater tatsächlich auf und nimmt seine Brille ab. „Hast du auf der Party gestern was genomm-?"

„Was dein Vater eigentlich sagen wollte", unterbricht ihn Mareike mit sehr bestimmten Unterton, „war: Das freut uns wirklich sehr."

Ich schaue zwischen beiden hin und her und kann nicht verhindern, dass das Lachen aus mir heraussprudelt.

Vielleicht habe ich heute Morgen ja wirklich Lust auf eine richtig große Portion Kitsch.

Als die Scones aus dem Ofen kommen und ich meinen fett mit Erdbeermarmelade beschmiert habe, lasse ich mich neben Mareike aufs Sofa fallen.

Ich gebe Mareike und den beiden Kommentatoren recht: Das Brautkleid ist wirklich unspektakulär. Nichts, was ich für so einen Anlass gewählt hätte. Es tut richtig gut über Belanglosigkeiten zu lästern, vor allem, wenn man dabei Erdbeermarmelade im Mund hat. Wir schauen uns den Gottesdienst an, den Einzug, die Chöre. Dann tritt der Pfarrer an den Altar und hebt die Hände zum Gebet. Ich höre nur mit halbem Ohr hin, immer noch ganz eingenommen von meinem Scone.

„...wir alle, die wir heute am Tisch des Herrn versammelt sind..."

Und dann trifft es mich wie einen Schlag.

Der Scone rutscht mit aus der Hand, fällt zu Boden, auf den weißen Teppich. Marmeladenseite nach unten, selbstverständlich.

Ich starre den Bildschirm an, das Brautpaar, aber vor allem den Pfarrer hinter seinem Altar.

Das ist es. Natürlich. Das letzte fehlende Puzzleteil. Das letzte Glied der Kette.

Ohne auf Mareike zu achten springe ich auf. „Sorry. Ich muss los. Hab den Termin mit meiner Lerngruppe ganz vergessen. Tut mir echt leid."

Ein paar Minuten später reiße ich die Flügeltüren zum Refektorium auf. Wie ich gehofft habe, sitzen die Alumni alle zusammen an einem Tisch beim Mittagessen. Roxy starrt mich an, die Gabel auf halben Weg zum Mund. „Lina! Was zum-"

„Kommt mit!" Ich bin schon halb wieder durch die Eingangshalle, als sie endlich zu mir aufschließen.

„Kannst du mir mal verraten, was das werden soll?", fragt Eric, sauer, wie immer, wenn man ihm beim Essen unterbricht.

„Warte ab." Ich laufe die Stufen nach oben, nehme mehrere auf einmal bis zu unserem Kollegium.

Wieso bin ich nicht eher drauf gekommen? Es war ihr Haus. Mytha und Hecate haben das Kollegium der Schatten nicht zufällig in den obersten Stock gelegt.

Ich werfe die Flügeltüren mit beiden Händen auf und eile den ausgestorbenen Gang entlang, vorbei en Eleanors und Mos Zimmern, der Küche, dem Lesezimmer, bis zu jener Tür ganz am Ende, durch die ich selbst erst einmal zuvor gegangen bin.

Vor Aufregung zitternd, lege ich die Hand auf die Klinke und betrete das Zimmer.

Ein achteckiger Raum, gotische Fenster zu allen Himmelsrichtungen und in der Decke, ein einziges, sternförmiges Fenster, genau mittig. Tageslicht fällt durch die Öffnung in den Kirchenraum, beleuchtet den steinernen Altar darunter. An der Wand dahinter hängt das Schattenschwert, mit dem Eleanor meine Schatten geprüft hat. Es kommt mir vor als sei seit dem Tag eine halbe Ewigkeit vergangen.

„Es ist hier." Meine Stimme hallt von den nackten Steinwänden wider. „Am Tisch, wo Mörder einst standen. Die Kirche hat Hecate und Myrtha verurteilt. Und es gibt nur einen Tisch, an dem Männer der Kirche stehen. Einen Altar."

Ein Opferaltar. Perfekter Ort für ein Ritual.

„Er war die ganze Zeit hier." Ich lege die Hände um den kalten Altarstein, beuge mich über den Tisch und schaue dann auf durch das Sternenfenster in den Himmel. „Hier, im Herzen des Kollegiums der Schatten."

„Wenn Damon das auch verstanden hat", sagt Eric langsam. „Dann wird er herkommen. Zum ersten Frühlingsmond. Er wird sich Zutritt zu seinem Kollegium verschaffen, egal um welchen Preis."

„Euch ist klar, was das heißt." Roxy tritt an meine Seite. Nicht eine Sekunde hat sie meine Schlussfolgerung angezweifelt. In ihrem Blick liegt grimmige Entschlossenheit. „Flucht ist vom Tisch. Im wahrsten Sinne des Wortes. Jetzt bleibt nur eine Möglichkeit. Kämpfen wir."

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