Spreu von Weizen (2)

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Asteria betritt das Zimmer. „Verzeih, mir Lina. Störe ich?"

Ich muss ein paar Mal blinzeln, bis mir klar wird, dass die Erscheinung vor mir real ist. So schnell hätte ich nicht mit einer Antwort des Triumvirats gerechnet. Hastig stehe ich auf und trete hinter Demetras Schreibtisch. „Eleanor ist nicht da."

„Ich weiß." Asteria sieht anders aus. Statt grün trägt sie jetzt schwarz und keine Pflanzen schmücken sie. „Ich habe das mit Eleanor gehört. Und ich bin gekommen, so schnell es Pflicht und Vorsicht zuließen. Was geschehen ist, tut mir aufrichtig leid."

Ich zucke mit den Schultern. „Es war Eleanors Entscheidung. Sie muss genauso damit leben wie wir."

„Damit...leben?" Asteria hält inne und kneift die Augen zusammen. Sie mustert mich, mit ihrem forschenden Blick. „Was hat Damon euch erzählt?"

„Dass Eleanor einen Pakt mit ihm geschlossen hat. Unsere Sicherheit gegen ihre Verbannung. Ich verstehe nicht, worauf Ihr hinauswollt."

Asteria macht einen Schritt auf den Schreibtisch zu, bis sie mir gegenübersteht. „Lina..."

O, nein. Ich kenne diese Stimme. Die, wir sind deine Eltern und lassen uns scheiden-Stimme.

„Eleanor ist tot."

Einen Moment bin ich ganz still. Die Worte müssen sacken. Dann sprudelt das Lachen aus mir heraus. „Ehrlich? Erst fallen Fabelwesen in meiner Schule ein. Dann verbannt sich Eleanor selbst und ich werde Priora. Und jetzt soll sie gleich tot sein? Ihr versucht mich doch gerade alle zu verarschen, oder? Irgendwo hier ist versteckte Kamera."

Asteria sieht mich an, ernst und schweigend.

Mein Lächeln erstirbt.

„Ich habe ihren Tod gesehen", sagt Asteria leise, „Nicht wie und wo. Nur bald."

Noch immer habe ich ein Lächeln auf den Lippen, aber bei ihrem Blick rutscht es mir langsam von Gesicht. „Das ist nicht wahr, oder?"

„Eleanors Zukunft war immer undeutlich zu lesen. So wie deine. Bei dir sehe ich nur das eine Wort. Soteria. Mein Volk ruft es, während du in der Arena stehst, den grauen Umhang um den Schultern. Nur diese eine Szene, der Rest ist im Schatten. Bei Eleanor sehe ich ihren Tod. Sie trinkt einen Kelch mit schwarzem Wasser und dann fällt sie in die Arme ihrer Schwester."

Ich sinke in Demetras Lehnstuhl. Atme. „Aber...aber...wieso..." Mein Kopf versucht Ordnung im den neuen Informationen zu schaffen. „Wieso hat sie das getan? Verbannung wäre schon schlimm, aber das...Nicolas und Mo haben Recht. Das...das war doch einfach nur dumm."

„Dumm?" Asterias Stimme ist scharf. „Eleanor hat ihr Leben für euch geopfert! Sie ist nicht einfach friedlich eingeschlafen. Sie hat sich euren Feinden ausgeliefert, freiwillig. Wissend, dass die sie umbringen werden! Demetra hat ihren Tod wenigstens nicht kommen sehen. Eleanor hat auf ihn gewartet. Allein. Versuche dir nur mal für einen Moment auszumalen, was das heißt!"

Ich versuche es. Wirklich. Ich stelle mir vor, wie ich vor der letzten Matheklausur sitze, damals als es um die Versetzung ging. Dann multipliziere ich das alles mal hundert. Den trockenen Mund, das klopfende Herz, die schwitzigen Finger...

Ich schlucke. „War es wirklich so schlimm?"

Asteria schnaubt. Sie wendet sich ab, geht zum Fenster und sieht nach draußen. „Der Tod ist ein mächtiger Gegner", murmelt sie, „Ich habe Krieger vor ihm in die Knie gehen sehen. Könige und uralte Tyrannen, weinend wie kleine Kinder. Und es ist eine Sache ihm mit dem Schwert zu begegnen. Aber mit leeren Händen, freiwillig? Das erfordert eine besondere Art von Mut." Asteria schweigt. Ihre Finger fahren über eine Pflanze. „Es gibt nicht viele aus dem Menschengeschlecht vor denen ich knien würde. Aber wenn ich Eleanor eines Tages hinter dem Schleier wieder sehe, dann werde ich es tun. So zu sterben, wie sie, um andere zu retten, gilt in meinem Volk als Heldentat. Es ist die höchste all unserer Tugenden. Und ihr nennt es dumm!" Sie schüttelt den Kopf. „Was seid ihr Menschen doch für seltsame Geschöpfe!"

Ich schrumpfe unter ihrem Worten, versinke in Demetras Stuhl. „Ich wollte nicht..."

„Ich weiß." Asteria seufzt und wendet sich wieder zu mir um. „Vergib meine harte Rede. Es ist nicht deine Schuld. Du bist zu jung."

„Und trotzdem soll ich das Kolleg anführen? Ich. Die nicht mal weiß, wie man eine Steuererklärung macht, geschweige denn ein Land regiert."

Asteria schmunzelt. „Wie gut, dass es in Fabelreich keine Steuern gibt."

„Ich bin sechtzehn! Ich gehe noch zur Schule!"

„Vertraust du Eleanors Urteil so wenig?"

„Nicolas sagt, es war Teil des Deals. Das unqualifizierteste Mitglied des Kollegs zur Priora machen."

Asteria kommt auf mich zu, setzt sich mir gegenüber vor Demetras Schreibtisch. Als sie sich vorbeugt ist hier Blick ernst. „Es gab genau ein Treffen zwischen Eleanor und mit. Wer saß dabei an der Seite der Priorin? Nicolas?"

Ich schlucke. „Nein. Ich."

„Genau. Ich glaube nicht, dass dein Priorat Teil eines Deals war. Eleanor hat dir vertraut. Sie hat dich bewusst ausgewählt."

Eine Erinnerung wandert durch meinen Kopf...

„Dann hat sie mich überschätzt. Ich kann das nicht."

„Lina." Langsam streckt Asteria eine Hand über den Schreibtisch, legt sie auf meine. „Vielleicht bist du die unerfahrenste im Kolleg, aber sicher nicht die unqualifizierteste. In dir steckt mehr als du ahnst. Ich kann es sehen. Streng wie Eleanor und sanft wie Demetra. Nicht umsonst ruft dich mein Volk Soteria."

„Ich bin keine Heldin. Keine Märtyrerin. Und schon gar keine Erlöserin."

„Du bist Lina. Lina von Stormglen. Das ist mehr als genug. Letzte Nacht war Eleanors Stunde, ihr Moment der Entscheidung, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Das hier ist deiner. Du kannst gehen. Zurücktreten, die Entscheidung anderen überlassen. Oder du kannst dich erheben, der Herausforderung entgegenwachsen und die werden, die du sein könntest."

„Und was wenn ich das gar nicht will? Das hier ist Mos und Eleanors Heimat. Ich bin neu, wie mir jeder immer so gerne unter die Nase reibt. In den letzten Wochen hat sich das Kolleg nicht gerade von seiner besten Seite gezeigt. In meiner Zeit hier habe ich zwei Prioras erlebt. Beide sind jetzt tot. Oder kurz davor. Warum..." Ich halte inne, suche nach den richtigen Worten. „Warum sollte ich mich in den Dienst einer Institution stellen, von der ich nicht mal sicher bin, ob sie es wert ist, für sie zu kämpfen? Ich könnte ein normales, gutes Leben haben. Soll ich ernsthaft mein Leben riskieren, weil ich in irgendeiner Prophezeiung erwähnt werde?"

„Nein. Deswegen nicht", sagt Asteria. „Aber darf ich dich etwas fragen: Warum hast du deinen Namen in das Buch der Wächter geschrieben? Warum bist du zurückgekommen, selbst nachdem du zu den Schatten gehen musstest? Warum bist du Mo in den Wald gefolgt, obwohl du wusstest, wie gefährlich es ist?" Alsteria hält inne. Als ich schweige, fährt sie mit sanfter Stimme fort. „Ich werde dir zu nichts raten. Aber ich denke, du solltest dich nicht länger belügen. Dich nicht und alle anderen auch nicht. Du willst gar kein normales Leben, was immer das heißen soll. Wenn du ganz ehrlich zu dir bist, weißt du das auch. Nach Fabelreich zu kommen, war wie ein großes Luftholen für dich. Wenn das Kolleg fällt und du in die Menschenwelt zurückkehrst, wirst du immer einen Teil von dir verstecken müssen, wie Alumna Constanze hier. Du kannst dich gegen das Priorat entscheiden. Aber schau in den Spiegel und sei ehrlich mit dir, bevor du es tust. Vielleicht ist das Kolleg an sich nicht deine Heimat. Aber die Menschen darin sind es. Und eine Institution kann man nur verändern, indem man Verantwortung für sie übernimmt. Nicht indem man sich versteckt oder wegläuft."

Asteria erhebt sich. „Ich werde jetzt gehen. Du bekommst gleich Besuch. Jemand will dich sehen, er steigt gerade die Treppe hinauf." Ich frage schon gar nicht mehr, woher sie das weiß. „Morgen komme ich wieder, zur selben Zeit. Ich bin gespannt, wen ich dann hier vorfinde." 

FabelblutWhere stories live. Discover now