Der letzte Flug der Elfen (2)

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Ich stehe da, mein Mund aufgeklappt, höre mein eigenes Blut in den Ohren pochen. Asterias Schmerzensschrei hallt in meinem Kopf wider. Sein Klang hat etwas in mir verändert. Aufgebrochen, gelöst. Ich spüre ein Kribbeln in meinen tauben Beinen und Armen.

Ich werde heute sterben. Und wenn das mein Schicksal ist, dann laufe ich nicht davon.

Mit einmal Mal rapple ich mich auf die Füße. Ich renne die Stufen ins Kollegium hinunter, den gleichen Weg, den vor mir auch Roxy, Nicholas und Faustia gegangen sind. Noch sind die schwarzen Gänge verlassen, aber kaum bin ich tiefer im Haus, etwa auf der Höhe von Demetras Arbeitszimmer sehe ich die ersten Kämpfenden. Wächter des roten und blauen Kollegiums, im Duell mit Wächtern in einheitlich schwarzen Kapuzenmänteln. Damons Leute, kein Zweifel. Nett auf jeden Fall, dass sie sich eine Uniform angezogen haben und wenn's nur schwarze Mäntel sind. So trifft man wenigstens nicht die Falschen.

Die Treppe ist nass und rutschig vom Wasser, als ich nach unten in die Eingangshalle laufe. Eine Gruppe Zwerge kommt mir entgegen, einer von ihnen auf dem Rücken einer Nachtmahrkatze. Sie jagen einen Gnom mit einer stacheligen Keule, der gerade versucht in die Küchen zu verschwinden. „He!" Ich packe einen von ihnen am Helm und ziehe ihn zu mir heran. „Kannst du in die Krankenstation bei den Gewächshäusern rennen und Flavius holen? Sag ihm die Priora schickt nach ihn!"

Ich warte seine Antwort nicht ab. Schon bin ich durch die Terrassentür des Refektoriums nach draußen getreten.

Die Gärten von Stormglen sind ein einziges Schlachtfeld. Überall um mich herum schießen Blitze von Feuer und Wasser durch die Nacht. Ich höre das Klirren von Stahl und in der Luft liegt der Übelkeit erregende Gestank von Eisen und Rauch. Direkt vor mir bohrt eine Harpie ihre Zähne in den Hals eines abgestürzten Phönixes. Daneben hacken zwei Wächter auf einen Elfenkrieger ein. Ein anderer von Damon Leuten windet sich am Boden, während sich Schlingpflanzen um einen Körper wickeln.

Es kostet mich alle Kraft der Welt um bei dem Anblick nicht wieder rückwärts zurück zu stolpern.

Das hier ist Krieg, Lina. Wie hast du gedacht, sieht der aus? Glaubst du, nur weil es Fabelwesen sind, die hier sterben ist es leichter?

Taumelnd mache ich ein paar Schritte über den feuchten Rasen. Vor mir im Gras liegt eine gekrümmt schwarze Gestalt. Ich zucke zurück als mich leere, gelbe Augen anstarren.

Es ist Alekto. Und sie ist tot.

Ihre ledernen Flügel stehen merkwürdig ab, wie unzählige Male gebrochen. Womöglich haben die Knochenbrüche beim Aufprall ein Trauma ausgelöst, von dem sie sich nicht mehr erholt hat. Vielleicht hat es aber auch die Wirbelsäule erwischt, falls Furien sowas haben.

Ich lasse Alektos toten Körper hinter mir und laufe ein paar Schritte weiter, zu einem weißen Fleck im Gras.

„Asteria!"

Die Elfenherrin liegt mit aufgefächerten Haaren am Boden, unter ihr eine Lache von goldenem Blut. Ihre Augen sind offen und ich stelle mit Erleichterung fest, dass ihre Lippen zittern.

Sofort lasse ich mich neben ihr auf die Knie sinken, greife nach ihrer Hand. „Keine Angst. Hilfe kommt."

„Lina.." Ihre Worte sind eher ein Seufzen, schwer einzuschätzen ob vor Erleichterung oder Ärger. „Bist das du?"

„Ja, ich bin's. Ich bin wieder da. Ich meine, ich bin wieder bereit und kämpfe, ich-"

Über Asterias Gesicht zuckt ein Lächeln. „Ich habe immer gewusst, was in dir steckt. Vom ersten Moment an. Du bist die richtige, um mein Volk in die Zukunft zu führen."

„Hört auf! Ihr werdet das sein. Flavius ist unser bester Heiler, er wird-"

„Lass mich sterben, Lina", sagt sie sanft. Ihr Blick geht hinauf zu den Sternen. „Es ist mein Schicksal."

„Euer Schicksal kann mich mal!" Ich spähe mit zusammengekniffenen Augen in die Dunkelheit und endlich – Flavius läuft vom grünen Kollegium auf uns zu, hinter sich zwei Wächter mit einer Trage. Sie müssen Slalom rennen, um Faustias Venus-Fliegenfallen zu entgehen, die den Weg pflastern wie Gegner in einem Computer-Spiel. „Ihr werdet leben. Ich habe schon genug Leute verloren. Noch mehr lasse ich nicht zu."

Mir reicht's. Genug von Schicksal und Prophezeiungen und irgendwelchen Mächten, die unser Leben vorherbestimmen. Wer auch immer mich gerne in einer bestimmten Rolle sehen möchte, ob als Anführerin oder Erlöserin, hätte mich nicht mit so einem eigensinnigen Kopf erschaffen sollen. Ich werde nicht für den Wahnsinn eines einzelnen Mannes sterben. Weder ich, noch jemand sonst hier.

Bin ich nicht Priorin? Was ist der Titel wert, wenn ich absolut niemanden um mich herum beschützen kann? Wenn ich genauso machtlos bin, wie die Schülerin Lina Büchner es war?

„O, Gott." Flavius kommt schlitternd neben uns zum Stehen. Seine Augen wandern über Alekto, dann zu Asteria. „O, mein-"

„Kannst du ihre Flügel heilen?", falle ich ihm ins Wort und mir ist bewusst wie hart ich klinge.

Mit einem einzigen geübten Blick erfasst Flavius die Situation. „Nein. Aber vielleicht kann ich ihr Leben retten. Wenn ich die Flügel entferne."

Ich schaue zu Asteria, die langsam aber sicher in die Bewusstlosigkeit abdriftet. Die goldene Blutlache unter ihr ist größer geworden.

Elfen sind stolze Wesen. Schwer einzuschätzen, was Asteria lieber wäre: Mit ihren Flügeln zu sterben, als gefallene Heldin in der Schlacht; wie geschaffen, eine Marmorbüste in der Halle der Eirenen zu werden...oder zu leben, aber nie wieder fliegen zu können?

Ich hole tief Luft. „Tu es. Auf meine Verantwortung."

Flavius nickt, kurz und scharf. Seine Helfer hieven Asteria auf ihre Trage. Ihr langes Haar fällt von den Seiten herab, goldenes Blut tropft von den Spitzen. Auch meine Hände sind voll davon.

Bitte lass sie leben.

Bevor er geht, wendet sich Flavius mir noch einmal zu, die Stirn in Falten gelegt. „Warum bist du nicht bei Nicolas im Kollegium?"

„Ich-ich habe Asteria fallen sehen und-"

„Beeile dich besser. Die Frontlinien sind durchbrochen. Wir konnten sie nicht geschlossen draußen halten, dafür haben wir zu wenig militärische Erfahrung. Die Kollegien halten sich tapfer, aber das hier ist einziges Chaos, jeder gegen jeden. Und keine Spur von Damon."

Ich habe das Gefühl ein Eisklotz sackt mir in den Magen: „Du meinst..."

„Was würdest du tun, wenn du Damon wärst? An der Front kämpfen? Warten, bis die Schlacht gewonnen und der Vollmond gesunken ist?"

„Nein." Meine Kehle wird eng. „Ich würde versuchen, ins Haus zu kommen und das Ritual durchzuführen, sobald die Schilde nicht mehr wirken. Wenn alle im Kampf verwickelt und abgelenkt sind." Ich rapple mich auf, wische Blut und Erde an meinem Umhang ab. „Danke, Flavius. Bleib bei Asteria, ja? Und bei Demetra. Beschütze sie."

Dann mache ich auf dem Absatz kehrt und jage in Richtung Kollegium der Schatten.

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