Lethe

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Bei den antiken Griechen führt der Weg in die Unterwelt durch einen Fluss. Styx, heißt er und nur im Boot des Fährmanns Charon kann eine Seele von der Welt der Lebenden ins Reich der Schatten übersetzen. Kreativ wie ich bin, hat mein Kopf den Mythos natürlich noch weiter ausgemalt, wann immer wir im Lateinunterricht darauf kamen: 

Charon, stehend in seinem Boot. Die langen verwilderten Haare und Kleider in geisterhaften Fetzen, taucht er das lange Ruder durch den Styx. Der Fluss ist schwarz und totenstill. Vor ihm sitzt, blass und spinnenwebenzart, die Seele und erwartet zitternd ihre Ankunft in der Unterwelt. Dem Ort, an dem all ihre weltlichen Güter zu Staub zerfallen, wo Lachen und Freude, der Nektar des Lebens, bitter werden, wo sie Hades mit eiserner Umarmung empfängt. Hades, der Herr der Schatten, der sich niemals von seinem Besitz trennt. Schon in meinem Kopf ist es eine gespenstische Szene.

Aber nichts im Vergleich zu dem, was ich gerade erlebe.

Mein Fährmann heißt nicht Charon, sondern Mo. Er sitzt hinter mir, beide Ruder in den Händen steuert er unsere Nussschale mit verbissener Miene durch die Wellen. Eisiges Wasser schwappt über den Rand und sorgt zusammen mit dem Wind dafür, dass ich seit einer halben Stunde ununterbrochen am Zittern bin.

Natürlich war es Mos Idee, sich eines der Boote vom Strand zu schnappen und damit zur Festung überzusetzen. Ich wäre niemals von selbst so wahnsinnig gewesen. Außerdem kann ich nicht gut rudern, meine Oberarme würden vermutlich schon jetzt brennen wie Feuer. Okay, vielleicht wäre mir dann immerhin wärmer.

So ungern ich es zugebe, Mos Weg ist der einzig mögliche. Das Portalbuch hätte uns eigentlich direkt zu Eleanor bringen sollen. Es muss einen Grund geben, warum es uns stattdessen an diesem gottverlassenen Strand ausgespuckt hat. Wenn es stimmt, und das da vorne Blackwells Gefängnis ist, gibt es sicher Schilde, die ein Eindringen per Portal verhindern. Das ist wahrscheinlich, bedeutet aber noch etwas anderes. Sollte Eleanor wirklich hier sein, Gefangene eines Gefangenen, dann läuft in dieser Festung einiges schief. Wie auch immer Blackwell es angestellt hat, durch Manipulation, Erpressung oder Bestechung: Dieser Ort ist kein Gefängnis mehr.

Zumindest nicht für ihn.

„Was machen wir, wenn wir da sind?", frage ich Mo und gegen den Wind muss ich schreien, „Du hast das doch durchdacht, oder?"

„Wann hätte ich denn irgendwas durchdenken sollen?" Mos Worte klingen gepresst, offenbar braucht er all seine Kraft, um unser Boot auf Kurs zu halten. „Erstmal schaue ich, dass wir nicht absaufen. Was danach kommt, sehen wir dann."

Na toll. So viel zum Thema Plan.

Trotz des Sturms sind wir dem Felsen mittlerweile ein ganzes Stück näher gekommen. Schwarze Klippen ragen über uns auf, glatt und scharfkantig wie Obsidian, gekrönt von einer massiven Festung. Der Übergang von Fels zu behauenem Stein ist so flüssig, dass es aussieht, als würde das Gefängnis direkt aus den Klippen wachsen. Eine schwarze Krone mit unzähligen Zacken und Fenstern, die als blinde Augen zu uns herunter glotzen. Diese Art Burg habe ich noch nie gesehen, weder in Deutschland, noch in Schottland. Am ehesten erinnert sie mich an die Festungen Saurons im Herrn der Ringe. Als ich in der Ferne ein Kreischen höre, reiße ich automatisch den Kopf nach oben. Halb erwarte ich, dass der Hexenkönig von Angmar mit seiner geflügelten Echse auf uns herabstößt, aber es ist nur eine panische Möwe im Wind.

Vermutlich könnten uns nicht einmal die Argusaugen eines Hexenkönigs bei diesem Sturm erkennen, denke ich erleichtert, bevor mir einfällt, dass wir nicht in einer Fantasy-Geschichte leben.

Obwohl. Eigentlich erfüllen wir hier gerade alle Merkmale einer klassischen Quest, oder? Zwei Helden, auf dem Weg, die wehrlose Prinzessin aus den Fängen des dunklen Herrschers zu befreien. Gut, weder sind Mo und ich Helden, noch Eleanor eine wehrlose Prinzessin (ich stelle mir gerade ihr Gesicht dazu vor!), aber es gibt unzweifelhaft gewisse Parallelen. Beunruhigende Parallelen.

FabelblutWhere stories live. Discover now