Alter Wald, neue Wünsche (1)

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„Dein Plan ist scheiße", sage ich und nicht zum ersten Mal, während ich ein eingewickeltes Sandwich vom Frühstück in meinen Rucksack stopfe. „Hast du jemals dran gedacht, dass wir dabei drauf gehen könnten?" 

Das Problem bei der Sache: Mos Plan ist eigentlich gar keiner. Echte Pläne sind für gewöhnlich Strategien wie man sich aus einer Gefahrenzone raus bringt, nicht mitten rein. Was wir vorhaben, ist keine Rettungsmission, sondern ein Selbstmordkommando.

„Die Rebellen haben die Scouts bisher nie ein Haar gekrümmt", sagt Mo und reicht mir eine Wasserflasche. „Und uns werden sie eh nichts tun. Wir gelten in Fabelreich noch als Kinder. Wahrscheinlich denken sie, wir hätten uns beim Wandern verlaufen. Oder irgendeine Mutprobe verloren."

Hmm. Sicher.

Wir sind wieder in Fabelreich. Zu lange Abwesenheit wäre verdächtig geworden. Außerdem ist das Kollegium der Schatten der einzige Ort, an dem wir ungestört reden können (auch wenn ich trotzdem die Tür im Auge behalte. Man plant ja nicht alle Tage einen Verrat).

„Spätestens, wenn wir Eleanor erwähnen, fliegen wir auf", murmele ich.

„Oder auch nicht. Vielleicht haben sie noch nie was von ihr gehört. Dann wissen wir immerhin, dass die Rebellen nichts mit ihrem Verschwinden zu tun haben. Und wenn doch..." Mo beißt sich auf die Lippe. „Wenn Eleanor sich bei ihnen versteckt, wenn sie irgendwie in Reigens Tod verwickelt ist, dann muss ich es wissen. Ich will endlich die Wahrheit. Dafür sind wir doch nach Oxford gekommen, oder? Vielleicht kann ich dann ja meinen Frieden damit machen. Aber eins schwöre ich dir: wenn ich herausfinde, dass sie unschuldig ist und nur jemanden deckt...dann werde ich Demetra höchstpersönlich den Namen bringen."

„Und du denkst, das wäre Eleanor recht?"

„Ist mir egal! Sie hat oft genug die tragische Heldin gespielt. Diesmal muss sie mal an uns denken. An das Kollegium, die Generationen von Schattenwächtern nach uns. Das Kollegium der Schatten ist seit Jahrhunderten ein Refugium für die Ausgegrenzten. Das lasse ich mit uns nicht einfach so enden. In diesem Wald liegen Antworten. Und ich werde sie mir holen." Mo sieht mich schief von der Seite an. „Du weißt, du musst nicht mitkommen."

„Und dich alleine gehen lassen?" Ich ziehe den Rucksack zu und werfe ihn mir über die Schulter. „Ne. Lieber kämpfe ich gegen ein paar Rebellen, als dass ich hier vor Angst sterbe. Ich frage mich nur, was wir im dritten Fall machen. Wenn die Eleanor tatsächlich entführt haben."

„Das holen wir sie raus" Mos Stimme ist ernst. Kurz scheint er zu überlegen, bevor er mit heiserem Flüstern fortfährt. „Bis zu zehn Mann sind kein Problem für mich. Und wie viele würdest du aktuell schaffen? Zwei, drei?"

Als ich verstehe, was er vorschlägt, kriecht mir eine Gänsehaut über die Arme. „Was, wenn es nicht kontrollieren kann?", flüstere ich.

Mo scheint meine Angst zu spüren. Er greift mir fest an die Schulter und schaut mir mit dem gleichen Nachdruck in die Augen. „Dann bin ich auch noch da. Ich hoffe nicht, dass es zu einem Kampf kommt. Aber wenn, müssen wir bereit sein. Für Eleanor, okay?"

Ich nicke nur.

Wir haben uns die Mittagszeit zum Aufbruch ausgesucht. Das ganze Kolleg wird jetzt im Refektorium sitzen und Roastbeef in sich reinschaufeln, da fällt es am wenigsten auf, wenn wir über den Hof huschen.

Es läuft einfacher als gedacht. Nur das große Eingangstor quietscht etwas, als wir uns durch einen Spalt nach draußen quetschen. Ich werfe einen letzten Blick zurück auf Stormglen Manor, das wie ein graues Schloss über uns aufragt. Kaum zu glauben, dass es erst ein paar Monate her ist, seit ich es zum ersten Mal gesehen habe. Seit ich in seinen Mauern ein neues Zuhause gefunden habe. Ich atmete laut aus und wende ich mich in die andere Richtung.

Bis jetzt habe ich dem Wald, der an das Kolleg angrenzt, nie groß Beachtung geschenkt. Für mich war es eben ein, naja, normaler Wald. Mit Tannen, Fichten, Eichen und was weiß ich noch. Erst jetzt fällt mir auf, wie falsch ich damit lag. In Fabelreich ist wohl alles anders.

Vom Kolleg geht eine schnurgerade Straße aus und verliert sich in der Ferne zwischen den Bäumen. Sie führt zur Siedlung, der einzigen größeren Stadt Fabelreichs, wo alle Wächter leben, die der normalen Welt endgültig den Rücken gekehrt haben. Ich war noch nie da und mit einem leichten Stechen im Magen wird mir bewusst, dass ich es wahrscheinlich auch nie mehr sein werde. Rechts und links der Straße teilt sich der Wald. Ja, wirklich: er teilt sich.

Auf der rechten Seite wächst Nadelwald. Ordentlich, wie mit dem Lineal nachgemessen, reiht sich hier Baum an Baum. Die Stämme sind makellos gerade und ragen so hoch in den Himmel, dass ich den Kopf verrenken muss, um die Baumwipfel zu sehen. Durch die schlanken Kronen haben die Bäume das Aussehen von Speerspitzen und genauso feindlich wirken sie. Um den Boden herum herrscht schon jetzt Dämmerung, die immergrünen Nadeln schlucken das meiste Tageslicht und so ist es nicht verwunderlich, dass dort kaum etwas wächst. Dicke Moosteppiche, durchsetzt von weißen Pilzen mit wächsernen Schirmen, die sich an den Rändern schwarz aufrollen und wie Tinte zu Boden tropfen, bedecken die Erde. Das hier ist ein Märchenwald, wie ihn selbst die Gebrüder Grimm nicht besser hätten schreiben können. Man erwartet schon fast, dass jeden Moment ein pilzsammelndes Rotkäppchen hinter einem der Stämme vorkommt.

Der Wald auf der linken Seite der Straße sieht ganz anders aus. Es ist ein Laubwald, ein alter Laubwald, aus knorrigen Eichen mit überirdisch wuchernden Wurzeln. Weil Winter ist, fehlen natürlich die Blätter und so zeigt sich noch deutlicher, wie bizarr die Bäume hier geformt sind. Sie wirken wie erstarrte Riesen, Kreaturen, die einst lebendig waren. Und ein bisschen, als hätte ein Erstklässler überdimensionierte Kastanienmännchen gebaut.

„Meinst du die können reden?", wispere ich, mit Blick auf einen besonders krummen Baum. „Sie sehen auf jeden Fall aus, als könnten sie es."

„Schön wär's." Mo verlässt den Weg in Richtung linker Wald und ich beeile mich, Schritt zu halten. „Dieser Wald weiß einige Dinge, die ich nur zu gerne erfahren würde. Aber so leicht wird er es uns nicht machen. Sprechende Bäume gibt's auch in Fabelreich nicht. Da hast du zu viel Herr der Ringe gesehen."

Am liebsten hätte ich ihm geantwortet, dass der Herr der Ringe auch eine sehr bestimmte Meinung hat, was das Verlassen von sicheren Wegen in unheimlichen Wäldern angeht, aber ich beiße mir auf die Lippe. Wir sind hier nicht in einem Fantasybuch, Lina, wir sind hier nicht in einem Buch!

Eine Weile laufen wir schweigend, Mo voran und ich dicht hinter ihm. Unter unseren Füßen knackt das raureifharte Laub bei jedem Schritt, aber ansonsten ist es so still, wie nur ein Wald im Winter sein kann.

Die Minuten ziehen sich, werden zu Stunden. Der Himmel ändert die Farbe, bekommt einen cremefarbenen Rand. Auch das Licht wird weicher, die Sonne steht jetzt tiefer und wirft goldene Sprenkel auf die frostweißen Stämme. Ich liebe es eigentlich, dieses magische Licht eines klaren Winterabends. Aber mittlerweile bin ich einfach nur noch genervt. Egal wie übertrieben ich schnaufe, Mo denkt nicht mal dran, eine längere Pause zu machen. Dabei ist das Kolleg längst hinter den Ästen verschwunden. Niemand hat unseren Aufbruch mitbekommen, sonst wäre uns längst eine Horde Wächter auf den Fersen. Von den Rebellen fehlt allerdings genauso jede Spur. Und mir ist kalt. Selbst die dickste Winterjacke kann nur eine gewisse Zeit lang wärmen Irgendwie haben Mo und ich nicht bedacht, wie lange es dauern könnte, die Rebellen zu finden. Im Sommer wäre das alles kein Problem, aber jetzt? Wir können nicht ewig durch die Eiseskälte stapfen. Wahrscheinlich würde nicht einmal ein Feuer reichen, um uns wieder aufzutauen. Es müsste einfach wärmer sein, für solche Aktionen.

Und dann, wie als hätte jemand meine Worte gehört, wird es wärmer.

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