Scherbengericht (2)

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Nacheinander betreten Demetra, Eric und Constanze den Saal. Alle drei bleiben aufrecht stehen, die Hände auf die Rückenlehnen ihrer Stühle gelegt. Ich versuche das Urteil aus ihren Gesichtern zu lesen, aber weder Erics noch Constanzes Miene wirkt allzu glücklich.

Die anwesenden Wächter erheben sich von ihren Bänken, das Gemurmel verstummt.

Eleanor steht als letzte auf und kehrt an ihren Platz vor dem hohen Tisch zurück. Mit durchgedrücktem Rücken und erhobenem Kinn schaut sie Demetra in die Augen, als die zu sprechen beginnt.

„Im Namen der Bewohner Fabelreichs ergeht folgendes Urteil: Eleanor Murray wird wegen des dringenden Verdachts des Mordes am Phönix Reigen aus der Gemeinschaft der Wächter ausgeschlossen. Sie wird von nun an als Verbannte im Exil in der Menschenwelt leben, ohne den Schutz des Kollegs und ohne die Möglichkeit jemals wieder nach Fabelreich zu gelangen. Die Verbannung gilt solange, bis die Angeklagte stichhaltige Gründe für ihre Unschuld vorlegt."

Eleanors Miene bleibt unverändert. An ihrem Hals zuckt ein Muskel, aber ansonsten wirkt sie ruhig.

„Hab ich das richtig verstanden?", zische ich Mo und Roxy zu, „Sie wird verbannt, weil sie unter Verdacht steht? Es ist nicht mal bewiesen, dass sie es war? Was ist denn das für ein beschissenes Rechtssystem? Scherbengericht der alten Griechen, oder was? Wer am häufigsten auf dem Zettel steht, wird verbannt."

Mos Blick ist düster. „Hast du nicht zugehört? Demetra will ihr eine Hintertür offen lassen. Sie soll sagen, was sie während des Mordes im Wald gemacht hat. Wenn sie das tut-"

„Unabhängig davon", fährt Demetra fort, „Haben die Alumni aufgrund der jüngsten Ereignisse beschlossen, das Kollegium der Schatten aufzulösen."

Die Worte brauchen eine Weile, bis sie bei mir ankommen.

Mo fängt sich schneller: „Was?!"

Zum ersten Mal seit Prozessbeginn sieht Demetra uns direkt an. In ihrem Blick liegt Bedauern, aber auch Härte. „Es tut mir leid", sagt sie und ich glaube es ihr sogar. „In den letzten Jahrzehnten ist zu viel Unheil von den Schatten ausgegangen. Ein Kollegium, das ein so seltenes, aber mächtiges Talent verwaltete, neigt wohl immer zu radikalen Tendenzen. Wir sind der Meinung, es ist besser, wenn zukünftige Schattenwächter ihr Talent innerhalb anderer Kollegien entwickeln und keine kleine elitäre Gruppe mehr bilden."

„Und was heißt das?" Zum ersten Mal höre ich Angst in Eleanors Stimme. „Was ist mit Lina und Mo? Willst du sie jetzt dafür bestrafen, dass sie Schattenwächter sind?"

„Natürlich nicht. Die beiden werden in einem neuen Kollegium Platz finden."

„Aber sie gehören in meins! Sie haben sich mir zur Treue verpflichtet, nach altem Recht dieses Landes, das kann man doch nicht einfach so per Verordnung auflösen!"

Ich kann das", sagt Demetra leise. Ihre Stimme bricht ab und als Eric es bemerkt, übernimmt er: „In drei Tagen versammeln wir uns wieder hier. Dann werden sich Mo und Lina unter aller Augen von Eleanor Murray und ihrem Kollegium lossagen."

„Und wenn wir uns weigern?", fragt Mo in die Stille.

„Dann folgt ihr eurer Alumna ins Exil."

„Also zwingt ihr uns zu wählen, zwischen Loyalität zu Eleanor und unserem Platz als Wächter."

„Das ist doch nicht euer Ernst?", ruft Eleanor, „Ihr könnt sie doch nicht vor so eine Wahl stellen?"

„Dann verhindere es!" Demetras Stimme ist flehentlich. „Ein Wort von dir und all das ist vom Tisch. Sag uns, was du zur Tatzeit im Wald gemacht hast. Entlaste dich selbst, nenne Namen und du bist rehabilitiert."

„Ich war angeblich schon einmal rehabilitiert. Schau, wohin es mich gebracht hat." Jetzt ist es Eleanor deren Miene hart bleibt. Seltsam, aber es wirkt auf einmal, als seien ihre Rollen vertauscht. Als sei es Demetra, die ihrem Richter gegenübersteht, nicht Eleanor. „Damals habe ich richtig gehandelt", sagt Eleanor, „Aber diesmal ist es anders. Diesmal wirst du von mir nichts bekommen, keinen einzigen Namen. Und ich bezahle gerne den Preis dafür. Schick mich ruhig ins Exil. Seht zu wie ihr zurechtkommt, ohne euer treues Monster, das für euch die Drecksarbeit macht. Ich freue mich jetzt schon, wenn ich eure verlogenen Gesichter nicht mehr sehen muss!"

„Und was ist mit deiner Treue zu mir?" Demetras Augen glitzern. Sie blinzelt mehrmals. „Gilt die denn gar nichts?"

Ich sehe Eleanor und Demetra an, dass dieser Wortwechsel beiden unendlich wehtun muss. Trotzdem führt Eleanor ihn unbarmherzig fort. „Treue ist keine Einbahnstraße."

„Dann lässt du mir keine andere Wahl..."

Eleanor lacht trocken. „Du hast eine Wahl!"

„Siehst du nicht, wie es sie quält?", faucht Constanze, „Sie will dir nur helfen und du...du...Hast du gar kein Herz?"

„Besser kein Herz, als kein Rückgrat!"

„Genug." Demetras Stimme wirkt brüchig. Müde. „Eric. Das Buch."

Eric zieht ein Buch von der Größe eines Atlas aus seiner Tasche und legt es behutsam vor Demetra auf den Tisch, zusammen mit einem Füller. Ich erkenne es sofort wieder. Es ist das gleiche, in dem an meinem ersten Tag im Kolleg mein Name festgehalten wurde.

Das Verzeichnis aller lebenden Wächter.

Demetra lässt den Füller eine Weile unschlüssig über der Seite schweben. In ihren Augen stehen Tränen, als sie den Kopf hebt und Eleanor direkt ansieht. „Warum warst du im Wald?", flüstert sie, „Bitte. Du brauchst es nur zu sagen. Ich muss das hier nicht tun..." Sie schluckt. „...ich will das nicht tun."

Eleanor schüttelt kaum merklich den Kopf. Ihre Lippen sind dabei fest zusammengepresst, als fürchte sie, schon der kleinste Laut könnte die Wahrheit verraten. Oder ihre Gefühle.

Demetra schließt die Augen, die Tränen lösen sich. Ich kann hören, wie sie auf das Papier tropfen, so still ist es, als die Priorin den Füller auf die Seite setzt. Ihre Hand zittert, sie muss fester aufdrücken als nötig, bevor sie Eleanors Namen mit einem Kratzen aus dem Gedächtnis der Wächter tilgt. 

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