Bei Tageslicht

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Im Kollegium der Schatten tickt die Standuhr weiter.

Sie ist nicht stehen geblieben, natürlich nicht. So etwas gibt es nur in Filmen. Zeit ist ein Fluss, er stoppt oder rast für niemanden.

Ein leiser Gong. Acht Uhr. Eleanor Murray ist jetzt seit zwei Stunden tot.

Die Standuhr tickt weiter.

Mit den schwarzen Zeigern klettert auch die Sonne am Zifferblatt hinauf, überzieht das Milchglas mit Licht. Noch ist sie hinter einem Schleier, Nebel verhüllt die Welt. Als die Sonne sich endlich über die Fensterbank des Lesezimmers schiebt, fallen ihre blassen Strahlen über den verlassenen Sessel, brechen sich im leeren Whiskeyglas auf dem Kaminsims, lassen Prismen von Licht über die dunklen Holzvertäfelungen tanzen.

Dann schlägt die Standuhr neun und Lina die Augen auf.

Irgendwo piepst ein Wecker. Ich drehe den Kopf, lehne mich über Mo und schlage in der Dunkelheit blindlings nach dem Leuchtzifferblatt auf seinem Nachttisch. Mit einem lauten Krachen schlägt der Wecker auf den Boden.

Ups. Naja, immerhin hat es seinen Zweck erfüllt. Das blöde Ding gibt Ruhe.

Durch einen Spalt im Fenster dringt Tageslicht ins Zimmer. Mo bewegt sich im Schlaf, öffnet die Augen. Er blinzelt und als er mein Gesicht über seinem bemerkt, zieht sich ein verschlafenes Grinsen über seine Mundwinkel. „Morgen. Könnte mich dran gewöhnen, so aufzuwachen."

„Morgen." Keine Ahnung, ob ich rot geworden bin. Wäre wahrscheinlich auch egal, im Zimmer ist es dunkel. Seltsamerweise habe ich plötzlich das Bedürfnis, ihn zu küssen. Nicht so richtig küssen, aber vielleicht ganz kurz, flüchtig. Auf die Wange. Unsere Gesichter sind so nah beieinander, es kommt mir irgendwie richtig vor.

Dann seufzt Mo, rollt sich auf die Seite und der Moment ist vorbei. „Wie spät haben wir?"

Ich schlucke. „Kurz nach neun."

„Dann kann ich es wohl nicht länger herauszögern. Eleanor wird mittlerweile zurück sein."

„Ist gestern Nacht gekommen." Ich setze mich auf. „Nicolas und sie haben gestritten, ich hab sie auf dem Gang gehört."

„Na, toll." Mo schwingt die Beine aus dem Bett und schlüpft in seine Hausschuhe. „Ich freue mich jetzt schon auf das Frühstück. Wird sicher ein großer Spaß, wenn die beiden sich die ganze Zeit passiv aggressiv anschweigen."

Auf dem Gang kommt uns Nicolas entgegen.

„Wenn man vom Teufel spricht...", raunt Mo mir zu.

„Morgen." Nicolas sieht nicht so aus, als hätte er besonders gut geschlafen. Seine Haare stehen in alle Richtungen ab und unter seinen Augen liegen Schatten. „Habt ihr Eleanor gesehen?"

„Nope", sagt Mo, „Bin im Gegensatz zu ihr leider kein Frühaufsteher. Sitzt vielleicht schon bei ihrer zweiten Tasse Kaffee. Wenn du Glück hast. Davor spricht man sie besser nicht an."

Er stößt die Tür zum Lesezimmer auf und wir treten ein. Der Raum ist verlassen. Vor den Fenstern scheint die Welt blind, der Geteilte Wald ist hinter dichtem Nebel verschwunden. Ein paar einzelne goldene Sonnenstrahlen dingen hindurch und malen Flecken auf die dunklen Dielen. Eleanors Lesesessel steht verwaist vor dem Kamin, eine karierte Decke ist unordentlich über die Lehne geworfen.

Wieder seufzt Mo. „Lass uns ins Refektorium gehen. Besser ich bringe es schnell hinter mich. Ziehe mir nur schnell was an."

„Mortimer." Er will gerade gehen, als ihn Nicolas am Ärmel zurückzieht. „Was ich gestern gesagt habe..."

„Passt schon. Ehrlich. Ich hätte genauso reagiert. Und irgendwo finde ich auch, du hast Recht. Eleanor muss uns einiges erklären."

Von der Tür kommt ein scharfes Klopfen.

FabelblutWhere stories live. Discover now