Komme, was da will

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Als ich die Tür zum Kollegium der Schatten öffne, laufe ich gegen eine Wand aus Kälte und Stille. Der Rest von Stormglen Manor ist wieder zum Alltag übergegangen und der Frühstückslärm aus dem Refektorium hat mir noch in den Ohren geklingelt, als ich die Treppen hinaufgestiegen bin. Aber hier...Stille. Unser Kollegium war nie das quirligste, trotzdem ist diese Totenstille selbst für uns ungewöhnlich. Wie auf einem Friedhof. Ein Ort, wo man hinkommt, wenn jemand fehlt.

Es heißt, manche Dinge weiß man erst zu schätzen, wenn sie nicht mehr da sind. Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehe: Manche Dinge nimmt man erst richtig wahr, wenn sie nicht mehr da sind. Meistens ganz alltägliche. Das Knarzen der alten Holzdielen, das zeigt, dass jemand da ist. Die Wärme der prasselnden Kamine, die ohne eine Alumna, die das Feuer in ihnen am Laufen hält, nur noch kalte, dunkle Löcher in der Wand sind. Das Kratzen von Eleanors Füller. Der intensive Duft nach Kaffeebohnen, der zu allen Tageszeiten in der Luft hing. Er war das spezielle Parfüm dieses Ortes, gemischt mit der rauchigen Note alter Holzmöbel, ledergebundener Bücher und Whiskey. Jetzt rieche ich nur noch kalten Stein.

Die Tür von Eleanors Schlafzimmer steht einen Spalt breit offen und ich kann nicht anders, ich werfe einen Blick hinein. Von dem einst so vollgestopften Raum sind nur noch Gerippe übrig. Das Bettgestell steht nackt und ohne Überzug in der Mitte. Die Regale und Tische sind leergeräumt und von ihren vielen Büchern fehlt jede Spur.

Eine Gänsehaut kriecht über meine Unterarme. Ich rede mir ein, dass sie von der Kälte kommt. In Filmen sehen die Zimmer von Verstorbenen immer so aus.

Von irgendwo weiter den Gang entlang, höre ich plötzlich ein perlendes Geräusch. Musik. Jemand spielt Klavier, ganz zart, wie um niemanden aufzuschrecken. Ich folge der Musik, bis in den Salon. Erst wundere ich mich über die plötzliche Dunkelheit, aber dann bemerke ich, dass jemand die Vorhänge zugezogen hat. Nur durch schmale Schlitze zwischen den schweren Stoffbahnen dringen Lichtstreifen in den Raum. Der große Kamin ist erloschen, aber auf dem Flügel brennt eine dieser kleinen viktorianischen Kugellampen. Mo sitzt davor, den Rücken über die Klaviatur gebeugt, die Stirn in Konzentration verzogen, die Augen geschlossen. Seine Hände schweben über den Tasten, springen hin und her in einem Tanz, der an Ektase erinnert. Es sieht aus, als hätten das Instrument und er eine Einheit gebildet. Die Musik, die dabei entsteht, ist Gänsehaut erregend schön. Sie klingt mal zart, mal traurig, dann wieder rasend und gejagt, als würde er die letzten Tage vertonen und alle seine Gefühle in das eine Stück legen. Ich stehe da und lausche gebannt. Mo schaut nicht auf, erst als der letzte Ton verklungen ist öffnet er die Augen. „Du bist es." Schwer zu sagen, ob das jetzt freundlich oder genervt klingen sollte. Er nimmt ein Whiskey Glas vom Flügel und leert es in einem Zug.

„Schönes Stück", sage ich.

„Ist nicht von mir." Mos freie Hand fährt Tasten, ganz leicht, ohne einen Ton zu erzeugen. „Es heißt Experience."

„Ah." Ich habe noch nie davon gehört.

Mo schaut mich an und zwischen seinen Brauen entsteht eine Denkfalte. „Warum bist du schon hier? Wir müssen unsere Entscheidung erst übermorgen treffen."
„Weiß ich." Ohne Mo anzusehen gehe ich zum Fenster und ziehe den Vorhang zur Seite. Sofort rauscht das Winterlicht in den Raum zurück.

Mo blinzelt heftig. „Hey!"

Ich habe wenig Mitleid. Schluchzende Klaviermusik, abgedunkelter Raum, Alkohol... Es wird Zeit, dass ihn jemand aus seinen melancholischen Künstler Vibes herausholt. „Du bist kein Vampir", sage ich kühl und nehme ihm das Glas aus der Hand. „Und damit reicht's für heute."

„Hat eh scheiße geschmeckt", sagt Mo. Dabei klingt er wie ein schmollender Teenager. Was er irgendwie ja auch ist, schätze ich? „Als hätte jemand Zucker reingekippt."

FabelblutWhere stories live. Discover now