Kapitel 10

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Am nächsten Morgen wache ich später auf als sonst. Es ist das erste Mal, dass ich mit den anderen frühstücke.

Keine besonders anreichernde Erfahrung.

Während ein hysterisch lächelnder Mann mit Backenbart, ich glaube er heißt George, von seinem Studium in Cambridge erzählt, erläutert uns Abbey ihre dritte
Magendarm- Spiegelung.

Wahrscheinlich bin ich einfach kein großer Menschenfreund.

Nach dem Essen will ich mich, wie so oft, in der Bibliothek verkriechen. Auf dem Weg dorthin, begegne ich jedoch Grace, die so laut durch den Flur trampelt, dass es an den Wänden wieder hallt. Als sie mich anschaut, kann ich in ihren Augen eine Mischung aus Unglaube, Nervosität und Angst erkennen.

Ein Blick genügt, um zu wissen, dass sie einen Albtraum hat.
Das ist nun schon seit Wochen so. Ich kenne sie
nicht gut, aber ich weis, das sie ständig schlafwandelt, durch die Gänge läuft und schreit und im schlimmsten Fall um sich schlägt.

Heute sieht sie einfach nur panisch aus. Vorsichtig gehe ich auf sie zu, halte meine Hände vor mir ausgestreckt.

"Ähm..."- unschlüssig, bleibe ich vor ihr stehen- "Schsch..." Versuche ich es dann halbherzig.

Sie schlägt meine Hand zur Seite "Sammy" sagt sie "Sammy"

"Nein, ich..."

"Doch." Die drückt ihren Zeigefinger auf mein Schlüsselbein." Ich weis dass ihr ihn habt. Meinen Sammy..."

Die Situation überfordert mich zunehmend.

"Grace." Sage ich eindringlich "GRACE"

"Nein! I... Ihr mmm...müsst mir zuhören.", sie verschluckt sich, so schnell atmet sie, "Dieses... Dieses Mädchen hat ihn.

"Sie redet wirres Zeug." Sagt Collins Stimme hinter mir. Erschrocken zucke ich zusammen.

"Sammy ist ihr Sohn." Fügt er unbeeindruckt hinzu.

Mein Hals fühlt sich seltsam trocken an.

Colin, der ein gutes Stück größer ist als Grace, umfasst in einer beruhigenden Geste ihre Schulterblätter.

"Sammy." Murmelt sie vor sich hin "Sammy."

"Ich weis. Schsch... Ich weis." Flüstert er.

Okay, Colin kann das wesentlich besser als ich.
Grace lässt sich sogar von ihm zurück in ihr Zimmer führen. Ein bisschen perplex schüttele ich den Kopf, drehe mich um und gehe Richtung Bibliothek.

***

Zu Mittag gibt es Nudeln. Nicht diese einfachen, aus meiner Zeit, sondern in Form von kleinen Tieren.
Da gibt es Goldfische, Eisbären, Flamingos..., sogar ein paar Dinosaurier.

Wie es draußen wohl aussieht?

Es ist das erste Mal, dass ich mir darüber Gedanken mache. Bis jetzt, hörten sie hinter den Wänden vor Eden, einfach auf.

Ob alles zerstört ist?

Oder gar schon zugewachsen?

Sind wir wirklich die letzten Menschen?

Was für Tiere gibt es noch?

Waren sie gegen das RT immun?

Haben sich neue Arten gebildet?

Wie sieht es mit der Evolution aus?

Gott, ich hasse diese Nudeln!

Ich will meine Gabel gerade zurück auf dem Tisch legen... als wir es hören.

Ein penetrantes Knirschen und Quietschen. Dann ein Schütteln. Als versuche ein Riese, die Mauern von Eden einzureißen.
Aufzubrechen.
Hochzuschieben.

Jemand schreit. Ich?

Es ist kurz. Nicht lange. Vielleicht ein paar Minuten.

Dann... Stille.

Wie sehen uns an. Reihum offene Münder und riesige Augen. Keiner wagt zu sprechen.

Bis Jack schließlich sagt:"Alle bleiben hier. Ich werde mir das ansehen."

Emmelie steht auf "Ich komme mit."

"Nein ich denke..." Setzt Jack an.

"Ich auch" unterbricht ihn Colin.

"Ich finde wir sollten alle gehen." Meint Abbey.

Elsa und ein paar andere nicken zustimmend "Sie hat Recht."

Ich weis nicht, ob ich so begeistert von der Idee bin. Aber hier sitzen bleiben und nicht zu wissen was draußen geschieht ist fast noch schlimmer, also stehe ich auf gehe mit den anderen an einem seufzenden Jack vorbei.

"Von dort muss das Geräusch gekommen sein." Lässt George verkünden.

Und er hat Recht. Kaum dass wir ein paar Schritte in die Richtung gegangen sind, sehe ich zarte Sandflächen. Wie Puderzucker auf den Gängen verstreut.

Moment! Sand?

Und es wird mehr, je näher wir kommen. Wir schweigen. Keiner von uns spricht.
Ich glaube ich zittere.
Noch nie habe ich mich so alleine gefühlt.

Am Ende von Flur Nummer 9 sehe ich dünne Lichtstreifen, wie Blutschlieren, an den Wänden entlangziehen.

Automatisch laufen wir schneller. Von irgendetwas angezogen. Wie Mücken. Man hört vereinzeltes, keuchendes Atmen.

Ein. Aus. Ein. Aus.

Noch ein paar Schritte. Dann...
Wir biegen um die Ecke.

***

EdenWhere stories live. Discover now