Kapitel 38

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„Was hat sie dir denn gezeigt?" fragt Charlotte als wir mit einer Gruppe von Arbeitern über die Straßen marschieren. Es ist nun das dritte Mal dass sie mir diese Frage stellt und wie auch in den vorherigen Malen weiche ich ihr mit einem Kopfschütteln aus. Ich war zögernd von Rachel davongeschlichen als sie mir die Tabletten in die Hand gedrückt hatte. Ich bin mir nicht sicher was sie damit wollte. Sie mir einfach schenken?

Aber nun liegen sie sicher verstaut in meiner Hosentasche und bei jedem Schritt spüre ich wie sie aufeinanderfallen und ein kleinwenig  gegen mein Bein drücken. Eigentlich gar nicht so unangenehm. Während Charlotte es aufgibt mich auszufragen und anfängt mir voraus zulaufen, fange ich an den Straßenverkehr in North zu betrachten.

Vor vielen Jahren als Katie noch nicht mal geboren war, nahm mich Dad mit auf eine Geschäftsreise nach Bangalore, eine Stadt in Indien. Der Vergleich zu dem verhältnismäßig eingeschlafenen Edinburgh, war ein Schock gewesen und ich kann mich noch daran erinnern wie ich durch die lärmigen Gassen geschlichen war, mit einer Arbeitskollegin meines Vaters an der Hand. Zwischen Bettlern, wilden Hunden, Frauen in langen Saries, Verkäufern die laut den Preis verhandelten, Motoradrikschas, Kühen, Autos... war ich und ich kann mich noch genau daran erinnern wie ich gedacht hatte, dass in dieser Stadt niemand tot sein kann.

Dieses Gefühl überkommt mich nun erneut. Der staubige Geschmack von Sand in meinem Mund zäh, klobig vielleicht ein bisschen vertraut. Der Geruch nach Teer und Schweiß in der Luft. Die lauten geschäftigen Schreie die von überall her erklingen. Und schließlich der beginnende Tag, der sich bei dem Gedanken an die bevorstehende Hitze zusammen zuziehen scheint. Zum ersten Mal bemerke ich, wie braun meine Haut geworden ist. Ich, die niemals Farbe im Gesicht bekommt.

Nach dem gestolperten Auf und Ab der Stiegen und Treppen, und Straßen und Plätzen, erreichen wir den zusammengebrochenen Teil einer Brücke, der gefährlich nahe über einer kleinen Häusergruppe ragt. Wir beginnen große Steinklumpen nach vorne in Richtung der anderen Arbeitern in Schubkarren nach vorne zu ziehen. Und die ganze Zeit über weiß ich genau was sich in meiner Hosentasche befindet. Fast wie ein Versprechen.

Als sich die Sonne Richtung Mitte nähert, werden wir dazu aufgerufen eine Pause zu machen. Früher, in meiner Zeit, hätte man jetzt irgendwas zum Essen gehabt. Hier setzt man sich jedoch nur auf den Straßenrand in den Schatten, wischt sich den Schweiß von der Stirn und versucht vergebens neue Kraft zu schöpfen. Es ist dieser Moment, in den man sich wünscht nackt auf einer Eisscholle zu liegen. Irgendwo im Nordpol. Etwas Weißes liegt vor mir. Etwas Rundes. Erbsengroß. Ich schrecke hoch. Ein paar von den Tabletten sind aus meiner Hosentasche gefallen und liegen nun verstreut vor mir. Hastig sammel ich sie ein. Bete dass sie niemand gesehen hat. Ich schaue mich um. Niemand hat es bemerkt denke ich und atme gerade auf als sich eine Hand auf meine Schulter legt und eine Stimme sagt: "Was ist das denn, dass dir gerade aus der Tasche gefallen ist?" ich drehe mich um. Vor mir steht der Aufseher der mich an meinem ersten Tag eingewiesen hat. Der, den Rachel Arschloch genannt hat.

„Nichts" sage ich und verzeihe keine Miene.

„Da bin ich mir aber nicht so sicher." er setzt ein überhebliches Grinsen auf. „Ich würde sagen, entweder rückst du es jetzt freiwillig heraus, oder ich tue es mit Gewallt."

Sein Blick sagt mir genau dass er keine Scheu davor hat ein dürres siebzehnjähriges Mädchen auf den Kopf zu stellen. Rasch gehe ich meine Möglichkeiten durch:

1.Sie irgenwo in meiner Kleidung verstecken.

2.Sie auf den Boden fallen lassen

3.Sie Rachel in die Schuhe schieben.

Leider wäre alles auf die ein oder andere Art auffällig, also bleibt mir nur noch die dümmste Idee übrig, die ich irgendwo im Hinterkopf versteckt halte.

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