Kapitel 22

5.9K 453 21
                                    

"Sterben und trotzdem weiterleben müssen, kann den wirklichen Tod zur Folge haben."
Irene Keidel-Aparcev

"Buzzcut Season" von Lorde

Wie lange verfolgt er uns schon?
Ich richte meinen Blick zu Boden. Will nicht, dass die anderen meinen aufgewühlten Gesichtsausdruck bemerken.

Also stolpere ich weiter, während die Sonne kompromisslos zu Boden prallt. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, zu wissen, dass er uns beobachtet.

Mich beobachtet.

Ich meine seinen Blick auf mir zu spüren.
Am liebsten wäre ich davon gelaufen.
Das Brennen an meinem Rücken hat aufgehört und ist lediglich zu einem leichten Juckreiz abgeschwächt.

Mittlerweile laufe ich vorneweg, halte den Kopf gesenkt, hebe ihn nur ab und zu, um einen Blick auf die stillgelegten Gebäude zu werfen.
Auch wenn sämtliche Fenster eingeschlagen und die Wände von Löchern durchsetzt sind, kann man den Glanz und Protz, der sie einst umgeben hat, erahnen.
Leergelaufene Pools und Springbrunnen, vertrocknete Palmen, vermoderte Paläste und riesige verstaubte Bildschirme, die die Häuser förmlich tapezieren.

So lebten  die Leute also, bevor der RT ausbrach und fast die ganze Menschheit ausrottete.

"Das muss der Wahnsinn hier gewesen sein.", meldet sich Hazel zu Wort. Sie hat den Mund aufgerissen und starrt zu einem Gerüst empor, das dem Eiffelturm verdächtig ähnlich sieht, "als ich das letzte Mal hier war, war es cool und aufregend, natürlich, aber jetzt, ist es einfach fantastisch."

"Naja" räuspert sich Colin, "es war fantastisch. Jetzt ist es eine Geisterstadt."

Und er hat recht. Die Stadt ist tot.
Egal wie elegant und monströs sie einmal ausgesehen hat.

"Glaubt ihr, hier spukt es?"

Ich bedenke Hazel mit einem sarkastischen Grinsen "Natürlich spukt es hier. Überall lauern die Geister der Verstorbenen."

"Aber meint ihr nicht, dass es an einem Ort wie diesem..." Sie zögert.

"... Leichen, vermoderte Skelette geben könnte?!" Beendet Colin ihren Satz.

Ich schaudere. Bis jetzt habe ich nur ungern an die Folgen eines Massensterbens gedacht.

"Ich glaube nicht, dass die hier frei rumliegen." Hazel seufzt.

"Nicht?" Colin bleibt stehen.

"Klar, die wurden bestimmt irgendwie entsorgt. Im Mittelalter hat man die Pestkranken auch verbrannt. Mein Geschichtslehrer..." Sie verstummt, auch Ihr muss aufgegangen sein, dass wir hier von unseren Nachkommen sprechen. Echten Menschen. Die Ururururururururururururennkel meiner Cousine, oder meines Neffen,  meiner Klassenkameraden,  von Walles, von Patricia...
Aber nicht die von Katie.

Mir wird schlecht.

"Es dauert nicht mehr lange." Der Mann mit dem weißen Kittel und der schiefen Nase schaute meiner Mutter nicht in die Augen.

Stattdessen sah er mich an.

Vielleicht dachte er, dass ein Kind, wie ich, eine solche Wahrheit noch nicht begreifen kann.
Ihm, dem Krankenhaus, keine Schuld gibt. Aber ich verstand ihn. Sehr gut sogar.
Es ist bald vorbei.
Mit Katie ist es bald vorbei.

"Wie lange?" Meine Stimme war ruhig.

Der Blick meiner Mutter sagte: Nein. Nein frag nicht. Bitte, frag nicht.

Der Arzt, zuständiger Chirurge für die Kinderkrebsstation im "Royal Hospital For Sick Children" Edinburgh, kratzte sich an der Nase.
Ich hasste ihn dafür. Wie konnte er jetzt auch nur daran denken zu popeln.
"Zwei Monate, wenn's hochkommt." Sagte er und vermied noch immer den Augenkontakt mit meiner Mutter.

Sie gab einen Laut von sich, wie das eines Rehs, dass auf der Autobahn angefahren wurde und an  die Frontscheibe geklatscht ist.

Ich wusste, dass sie jetzt an meinen Vater dachte, der heute mit seiner  Freundin ihren Geburtstag nachfeierte, und deshalb nicht kommen konnte. Er wusste nicht, das es diesmal keine der wöchentlichen Untersuchungen ist.

Wir saßen im Büro des Arztes. Wurden, beziehungsweise meine Mutter, zu ihm hinbestellt, während Katie mit den anderen Krebskindern im Aufenthaltsraum spielte.

Sie hasste die Chemo.
Die Spritzen, die ständige Übelkeit und, dass sie nicht mehr zur Schule gehen konnte, wie alle anderen auch.
Außerdem vermisste sie ihre Haare.
"Wir sind gleich wieder da, Schatz." Hatte ihr Mum gesagt und einen Kuss auf den kahlen Kopf gedrückt.

"Wir werden die Behandlung abbrechen", sagte der Arzt jetzt. Ich betrachte eine Fliege, die es sich auf seinem Revers gemütlich gemacht hatte. "Sie wird mit jedem Tag schwächer werden. Die Müdigkeit nimmt zu und auch das Atmen sollte ihr schwerer fallen. Unternehmen sie  etwas Schönes mit ihr. Fahren Sie auf's Land. In einem Alter wie Ihrem, wird sie es noch nicht begreifen. Erklären Sie es Katie..."

"Sie meinen, ich soll meiner siebenjährigen Tochter erklären, dass sie stirbt?" Unterbrach ihn Mum.

Er zuckte hilflos mit den Schultern.

Mum stand auf. Sie ergriff meine Hand. Umklammerte sie so fest, dass es wehtat. Sie zitterte. "Wir gehen, Maggie." Sagte sie.
Der Chirurge schwieg.

Als wir aus dem Raum traten, ließ sie die Tür mit einem lauten Krachen zuschlagen. Sie war so weiß wie eine Leinwand. "Hol sie bitte."

Ich nickte nur. Das Sprechen fiel mir schwer.

Als ich Katie entgegen lief und sie hochhob, ihren kleinen Körper in meinen Armen spürte, hätte ich am liebsten gelacht. Ich wusste nicht wieso. Wie in Erinnerungen aus der Kindheit, von Momente in denen man sich ohne Grund einfach high fühlte und so sehr lachte, dass man die Beine zusammenkneifen musste um nicht in die Hose zu pinkeln.

Aber ich lachte nicht. Es blieb mir im  Hals stecken.

Beim Hinaustreten aus dem Krankenhaus, fasste uns Mum an den Händen.

Im Auto erzählte sie uns von der Idee, auf einen Bauernhof zu fahren.
"Die haben da auch Papageie. Echte Papageie. Könnt ihr euch das vorstellen?"
Ja, das konnten wir tatsächlich.

Ich beuge mich vor und übergebe mich großzügig auf dem Asphalt. Zum Glück bin ich noch umsichtig genug nicht auf meine Schuhe zu kotzen.
Ich kotze solange ich kann. Bis jedes kleinste Stück Nahrung aus meinem Magen verschwunden ist. Schweratmend stütze ich meine Hände auf den Knien ab und schließe die Augen.

Als ich sie wieder öffne, sehe ich Hazels und Collins entsetzte Blicke.

"Sorry" sage ich.

EdenWhere stories live. Discover now