Chapter 44

43.2K 1.4K 109
                                    

Am nächsten Morgen ging es mir auch nicht wirklich besser als am Abend zuvor, aber etwas anderes hatte ich eigentlich auch nicht erwartet. Ich fühlte mich immer noch total kraftlos und müde, aber mein Wecker, der mich automatisch in der Woche für die Schule weckte, war mir anscheinend nicht wohlgesonnen. Als ich mein Handy vom Nachttisch genommen hatte – offenbar hatte ich es gestern Abend doch noch dorthin gelegt, bevor ich zu weinen begonnen hatte – und den Alarm abschaltete, überlegte ich wirklich kurz, ob ich nicht einfach so tun sollte, als sei ich krank.

Dann müsste ich nicht in die Schule gehen, könnte den ganzen Tag im Bett liegen bleiben und – das war am Wichtigsten – müsste Jake nicht wiedersehen. Allein sein Name in meinen Gedanken versetzte mir wieder einen schmerzhaften Stich, aber trotzdem quälte ich mich aus dem Bett. Erstens wollte ich mich wirklich umziehen (ich trug ja immer noch das Outfit von gestern, da ich mich darin direkt auf mein Bett geschmissen hatte) und zweitens schuldete ich meiner Mutter nun mal eine Erklärung, wieso ich sie gestern quasi ignoriert hatte. Ich war mir aber sicher, dass sie später, als ich endlich geschlafen hatte, noch einmal kurz in mein Zimmer gekommen und nach mir gesehen hatte, denn so etwas tat sie immer.

Sie ließ mir ziemlich viele Freiheiten und wusste genau, wann ich einmal alleine sein wollte, aber nichtsdestotrotz redeten wir auch viel über alles Mögliche. Und genau deswegen wollte ich ihr irgendwie erklären, warum ich gestern einfach in mein Zimmer verschwunden war. Das nächste Problem dabei war allerdings, dass ich nicht im Geringsten wusste, was ich ihr denn erzählen sollte. Von der ganzen Fake-Beziehungs-Sache sollte sie nämlich nichts wissen, dafür war ich definitiv noch nicht bereit.

Wozu ich allerdings auch noch nicht in der Lage war, war rational über das Geschehene nachzudenken. Alles war irgendwie zu viel auf einmal. Jake küsste mich, wollte außer der Fake-Beziehung offenbar nichts mehr mit mir zu tun haben, ich gestand mir meine Gefühle für ihn ein. Ich kam mir wirklich vor wie in irgendeinem dramatischen Liebesroman von Jo oder einem dieser herzzerreißenden Filme, die meine beste Freundin so liebte.

Nur dass viele Filme und Bücher mit einem Happy End endeten, ich aber wirklich nicht wusste, wie sich ein Happy End für Jake und mich ergeben sollte. Ich hatte mich offenbar in ihm getäuscht. So schwer es war, dass zuzugeben, war es doch die einzig logische Erklärung für sein doch so verwirrendes Verhalten.

Er war nicht der süße, zuvorkommende Typ, der einem die Jacke abnahm und zum Essen einlud. Er war anscheinend wirklich der arrogante Typ, für den ich ihn so lange gehalten hatte, der arrogante Typ, der andere Personen nur für seine eigenen Zwecke benutzte. Und dass ausgerechnet ich auf ihn hereingefallen war, tat fast so sehr weh, wie zu wissen, dass alles nur ein Spiel für ihn gewesen war.

Er hatte im Handumdrehen gewonnen und ich nicht einmal gewusst, dass wir gespielt hatten.

Letztendlich quälte ich mich doch aus dem Bett und verschwand im Bad, um mir das Gesicht zu waschen, was mich aber leider auch nicht erholter aussehen ließ. Was soll's, dachte ich und griff nach kurzem Überlegen nach dem Concealer, den Jo mir einmal geschenkt, den ich aber noch nie benutzt hatte. Als sie ihn mir gegeben hatte, hatte ich sie nur entgeistert angesehen, aber jetzt war ich froh, dass ich dank ihr meine Augenringe zumindest ein wenig überschminken konnte.

Sobald ich wieder aus dem Bad trat und das dunkelblaue Kleid an meinem Schrank hängen sah, schnappte ich mir kurzerhand den Kleiderbügel und hing es in die hinterste Ecke meines Kleiderschrankes. Es tat mir zwar ein wenig leid, es zwischen die Sachen zu hängen, die ich entweder nicht mehr mochte oder die mir mittlerweile zu klein waren, aber diese Möglichkeit war viel besser, als es immer sehen zu müssen. Ich zog mich schnell um und kämmte mir die Haare, aber dann machte ich mich auch schon auf den Weg nach unten zu meiner Mum, die mit Sicherheit gerade in der Küche frühstückte.

„Hi Mum", sagte ich unsicher, aber sie wandte mir sofort den Kopf zu. Aus ihrem sorgenvollen Blick konnte ich herauslesen, dass sie mir zwar meine Freiheiten lassen wollte, aber sich trotzdem Sorgen und Gedanken um mich machte.

„Hallo mein Schatz, geht es dir wieder besser?" Unfähig, ihr ins Gesicht zu lügen und ihre Frage mit einem konkreten „Ja" zu beantworten, nickte ich nur und setzte mich ihr gegenüber.

„Das freut mich", war ihre Antwort auf mein eher weniger überzeugendes Kopfnicken, aber sie fragte nicht weiter nach. Sie kannte mich und sie wusste genau, dass ich ihr sagen würde, was los war, wenn ich dazu bereit war. Da ich aber nicht sicher war, ob ich jemals bereit sein würde, ihr die ganze Geschichte zu erzählen, holte ich Luft und versuchte, ihr von meinem Dilemma zu erzählen, ohne wirklich die essentiellen Probleme zu verraten.

„Jake und ich... wir haben uns gestritten und ich weiß nicht mehr, was ich denken soll. Wir haben uns nicht konkret getrennt oder so, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie wir das wieder hinkriegen sollen." Den Kloß in meinem Hals, der sich während dieser Worte gebildet hatte, schluckte ich herunter. Ich mochte es eigentlich überhaupt nicht, anderen Leuten zu zeigen, wie verletzlich ich sein konnte, aber bei meiner Mutter war das natürlich etwas anderes.

Sie stand auf, nahm mich kurz in den Arm und legte mir dann die Hände auf die Schultern. „Ihr bekommt das wieder hin, Claire. Da glaube ich fest dran. Und falls doch nicht, dann musst du ihn wenigstens nie deinem Vater vorstellen." Ihre Worte sollten mich trösten und ich muss zugeben, dass sie es wirklich ein wenig taten. Der Kommentar über Dad brachte mich sogar ein wenig zum Lächeln, da er sich wirklich manchmal damit schwertat, zu verstehen, dass ich beinahe erwachsen war. Vielleicht lag das aber auch daran, dass er nun mal häufig weg und nicht zuhause bei uns war, ich wusste es nicht.

„Kannst du mich heute zur Schule fahren?", fragte ich meine Mum und diese nickte sofort.

„Natürlich." Ich schnappte mir noch schnell einen Apfel für die Schule, im Moment hatte ich wirklich keinen Hunger, dann holte ich meine Tasche von oben und folgte meiner Mutter in die Garage. Den Weg zur Schule über starrte ich eigentlich hauptsächlich nur stumm aus dem Fenster und je näher wir dem Gebäude der Schule kamen, desto unruhiger wurde ich. Soweit ich Jake gestern richtig verstanden hatte, wollte er unsere Fake-Beziehung wirklich immer noch aufrechterhalten und auch wenn ich das insgeheim nun für eine schlechte Idee hielt, wusste ich trotzdem nicht, was ich anderes machen sollte, als weiter diese Rolle zu spielen, die für mich zu so viel mehr geworden war.

„Du schaffst das, Claire. Das habe ich dir eben schon gesagt und ich bin immer noch der Meinung." Ich sah meine Mutter an, die mir aufmunternd zulächelte. Eigentlich hatte sie zuhause „Ihr schafft das" gesagt und die Veränderung ihrer Worte versetzte mir einen Stich. Ohne es wirklich zu wollen, hatte sie mir gerade deutlich gemacht, was ich schon seit gestern Abend wusste, aber noch nie ausgesprochen hatte. Es gab kein wir mehr.

„Danke Mum. Bis nachher", sagte ich einfach und stieg sofort aus, damit sie meine entgleisten Gesichtszüge nicht noch länger sehen konnte. Ich wusste zwar nicht, wie ich diesen Tag überstehen sollte, aber ich hatte nun mal keine andere Wahl.

PretendingWhere stories live. Discover now