Chapter 56

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Ich betrat tatsächlich um kurz vor fünf den Park, wobei mir auffiel, dass Jake und ich uns zwar im Park treffen wollten, aber keinen genauen Treffpunkt festgelegt hatten. Ich stand also zu Beginn ein wenig verloren am Eingang des Parks herum und wollte schon mein Handy aus der Jackentasche holen, um Jake zu schreiben, aber da hörte ich schon das mir mittlerweile so vertraute „Hi, Claire" hinter mir und steckte mein Handy wieder weg. Als ich mich daraufhin umdrehte wurde ich mit Jake konfrontiert, der leicht lächelte und sich erst einmal kurz durch die Haare fuhr, da ihm ein paar der dunklen Strähnen in die Stirn gefallen waren.

„Hey Jake", antwortete ich schnell, damit ich ihn nicht zu lange anstarrte, ohne dabei irgendetwas zu sagen. Jakes Lächeln vertiefte sich etwas und irgendwie begannen wir nebeneinander her durch den Park zu spazieren, ohne uns vorher abgesprochen zu haben. Und für einen kurzen Moment kam mir alles komplett normal und routiniert vor – so als hätten wir nie etwas anderes gemacht. Nach einer kurzen Zeit, in der wir wahrscheinlich beide einfach unseren Gedanken nachhingen, ergriff ich dann aber doch das Wort.

„Ich möchte ganz ehrlich mit dir sein, Jake", begann ich und merkte, wie sich sein Kopf ruckartig zu mir drehte, damit er mich ansehen konnte, allerdings wandte ich mich ihm nicht komplett zu. Ich wollte nämlich einen möglichst klaren Kopf behalten und ein Blick in seine Augen hätte meine Konzentration wie immer zunichte gemacht. „Ich weiß noch nicht so ganz, ob und wenn ja, wann und wie ich dir verzeihen kann." Nach meinen Worten sah ich aus dem Augenwinkel, wie Jake seinen Kopf wieder von mir wegwandte, also sprach ich schnell weiter, um zum Punkt zu kommen.

„Aber ich verbringe wirklich gerne Zeit mit dir. Und manchmal kommt es mir tatsächlich so vor, als ob...", ich stockte und musste kurz nach den weiteren Worten ringen, „als wären einige Dinge gar nicht so passiert, wie sie es nun mal sind und als wäre alles noch total normal – so normal, wie es bei uns eben war." Ich konnte jetzt nicht mehr anders und wandte Jake das erste Mal in diesem Gespräch mein Gesicht zu, stellte aber fest, dass diesmal er derjenige war, der den Blick mit einer unergründlichen Miene nach vorne gerichtete hatte. Ich überlegte, ob ich nicht direkt noch irgendetwas sagen sollte, aber dann öffnete Jake den Mund und ich sah ihn abwartend an.

„Du hattest mich ja gebeten, dir Zeit zu lassen", sagte er und an seinem langsamen, ebenfalls abwartenden Ton merkte ich, dass es ihm anscheinend nicht leichtfiel, die Worte auszusprechen, die ihm offensichtlich auf der Zunge lagen. „Und die möchte ich dir natürlich auch geben, das ist immerhin das Mindeste, das ich tun kann, ich weiß. Aber natürlich fällt mir das nicht gerade leicht, weil ich dich nun einmal vermisse. Deswegen würde ich mich ehrlich gesagt freuen, wenn wir zwischendurch schon einmal etwas gemeinsam machen würden." Jake warf mir einen kurzen Seitenblick zu und aus seinem Gesichtsausdruck konnte ich herauslesen, wie unsicher er durch sein Geständnis geworden war. Trotzdem sprach er noch weiter.

„Das musst du natürlich nicht, du kannst mir gerne sagen, wenn das... zu viel oder zu früh oder was auch immer ist, ich wollte das nur einmal losgeworden sein, damit du weißt, was ich denke." Jake schien nach seiner Aussage zwar ein wenig erleichtert, aber falls ich seine Mimik richtig deutete, dann war er sich nicht mehr sicher, ob er nicht vielleicht zu viel gesagt und sich somit sozusagen verraten hatte. Trotz allem brachte mich die Kombination aus seinen Worten und diesem Verhalten aber zum Lächeln, da ich das irgendwie süß fand.

„Ich finde es gut, dass du mir das gesagt hast", antwortete ich. „Ich würde gerne wissen, was du so denkst, immerhin möchte ich dir ja auf jeden Fall vertrauen können." Jake neben mir nickte und als er mir wieder in die Augen schaute, konnte ich sehen, was für eine erleichternde Wirkung meine Worte auf ihn wohl gehabt hatten. Jetzt lächelte sogar er ein wenig, was mir natürlich sehr gefiel.

Den restlichen Nachmittag über spazierten wir noch ein wenig gemeinsam durch den Park und unterhielten uns schlicht und einfach. Wir redeten nicht mehr über uns oder darüber, was wir dachten, sondern über ganz normale Dinge und gerade das gab mir zwischendurch das Gefühl, als ob wir doch noch unbeschwert miteinander umgehen konnten. Natürlich war die Komplettsituation immer noch ein wenig seltsam und zwischendurch dachte ich auch immer wieder darüber nach, wie verletzlich der Jake gewirkt hatte, der im Café gesessen hatte und auch jetzt mein Gegenüber war, aber das störte mich eigentlich nicht so sonderlich.

Erst, als die Dämmerung irgendwann nicht mehr zu ignorieren war (weder Jake noch ich waren vorher in unserem Gespräch darauf eingegangen, dass es so langsam spät wurde), fiel mir wieder ein, dass ich mit Jake auch noch darüber hatte sprechen wollen, wie wir uns unseren Freunden gegenüber verhalten sollten, beziehungsweise, was wir ihnen denn sagen sollten. Ich wollte immer noch nicht, dass sie uns zu viele Fragen stellten, ein regelrechtes Kreuzverhör unserer Freunde (das sie definitiv eröffnen würden, wenn wir ihnen erzählten, dass Jake und ich nicht mehr „zusammen" waren) würde ich nämlich im Moment noch nicht bestehen, so viel war sicher.

„Jake?", sagte ich also, um wieder seine volle Aufmerksamkeit zu bekommen, da wir gerade für einen kurzen Moment beide unseren eigenen Gedanken nachgehangen hatten, ohne uns zu unterhalten.

„Ja?"

„Ich habe gerade darüber nachgedacht, was wir denn unseren Freunden sagen sollen. Ich habe ehrlichgesagt keine Lust, vollkommen ausgefragt zu werden, aber ich möchte und kann sie definitiv auch nicht weiter anlügen."

„Also um ehrlich zu sein", begann Jake mit nachdenklicher Stimme, „habe ich schon mit ihnen gesprochen." Überrascht sah ich ihn an, konnte den Ausdruck in seinen Augen aber nicht richtig deuten, also wartete ich lediglich ab – Jake würde mir das, was er gesagt hatte, bestimmt noch weiter erklären.

„Nicht direkt am nächsten Schultag nach dem Wahrheit-oder-Pflicht-Spiel, aber kurz danach dann schon, als mir so richtig klar geworden ist, was ich denn da eigentlich getan hatte. Ich wollte erstmal nicht, dass unsere Freunde uns zu viele Fragen stellten – ich wollte versuchen, irgendwie wieder alles hinzubiegen, auch wenn das natürlich unmöglich ist. Ich habe also mit ihnen gesprochen und versucht, ihnen die Situation zu erklären, ohne es wirklich zu tun, verstehst du? Sie nicht anlügen, aber trotzdem auch nicht die Wahrheit sagen. Ich glaube aber, ich habe es ganz gut hinbekommen, immerhin haben sie uns ja in Ruhe gelassen."

„Was hast du ihnen denn genau gesagt?" Ich konnte einfach nicht anders, als das zu fragen, aber letztendlich war es sowieso mein gutes Recht, die Antwort auf diese Frage zu wissen, immerhin ging es auch um mich.

„Ich habe erzählt, dass ich in Bezug auf dich Mist gebaut habe. Und dass du alles Recht hast, auf mich sauer zu sein, und ich zwar noch nicht genau wusste, wie ich das wieder in Ordnung bringen würde, aber sie uns bis dahin bitte nicht ausfragen sollten."

Da war die Formulierung wieder. Mist gebaut. Es war ein wenig verrückt, aber genau mit diesem banalen Ausdruck schienen Jake und Emily die Geschehnisse zwischen Jake und mir andauernd zu beschreiben. Vielleicht war es aber auch besser so, immerhin war „Mist gebaut" eine alltägliche Redewendung, die dem Geschehenen irgendwie die Schärfe nahm. Nicht, dass es dadurch an Bedeutung verlor, im Gegenteil, aber ich konnte mir doch vorstellen, dass es so leichter war, über dies alles zu sprechen.

„Danke." Ich antwortete nicht mit mehr Wörtern auf die vielen Sätze, die Jake gesagt hatte, aber ich hatte das Gefühl, dass dieses einfache Wort seine Wirkung in unserem Gespräch nicht verfehlte.

Jakes Erklärungen hatten mir gezeigt, dass seine Absicht, „es wieder in Ordnung zu bringen" (so hatte er es eben zumindest selbst formuliert), anscheinend wirklich ernst gemeint war, sonst hätte er nun mal nicht mit unseren Freunden gesprochen. Abgesehen davon war mir aber auch noch klar geworden, dass Jake mich wirklich gut genug kannte, um zweifellos zu wissen, dass ich auf keinen Fall direkt über das Geschehene sprechen wollte, obwohl ich ihn mit der ehrlichen Schilderung der Situation als genau den arroganten Macho hätte darstellen können, der er meiner Meinung nach gewesen war, bevor ich ihn näher kennengelernt hatte.

Jedenfalls hatte Jake vollkommen Recht gehabt, ich konnte zwar mit meinen Freunden über beinahe alles sprechen, aber wenn es um solche Dinge wie meine eigenen Gefühle ging, war ich doch nicht sonderlich gut darin. Auch wenn es beinahe nie gut ausgeht, wenn man Dinge, die einen belasten, ständig wie einen viel zu schweren Rucksack mit sich herumträgt – ohne die Last mit irgendwem zu teilen – war eben genau das das, was ich des Öfteren tat.

Und dass Jake eben genau diese Eigenschaft von mir so gut erkannt hatte, obwohl ich mit ihm nie darüber gesprochen habe, gab mir zu Denken. Er kannte mich wirklich noch besser, als ich sowieso schon angenommen hatte und vielleicht konnte ich es so endlich schaffen, Jake wieder mehr zu vertrauen. Vertrauen und auch Ehrlichkeit waren meiner Meinung nach nämlich die Grundvoraussetzungen, die erfüllt sein mussten, damit ein Verzeihen überhaupt möglich sein konnte.

PretendingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt