Die Künste eines Mädchens

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Ein großer, schlanker Körper kam rückwärts, einen großen Müllsack hinter sich herziehend, aus der Tür gewankt.
Anscheinend war er weder betrunken, noch im Halbschlaf, so vermutete ich sehr stark, dass er derjenige mit der üblen Laune war.
Keine Frage, er murmelte nämlich unschöne Beleidigungen vor sich hin, als er weiterhin rückwärts die kleine Treppe hinunterstieg, bis er knapp drei Meter vor mir zum stehen kam.
Ich hielt die Luft an und hoffte, dass er einfach wieder im Innern des Hauses verschwinden würde, ohne sich umzusehen.

Aber er drehte sich um.
Mein Atem entwich mir mit einem pfeifenden Geräusch und für einen kurzen Moment war ich wie versteinert.

Ein hochgeschossener, schwarzhaariger Junge hatte überrascht den Mund geöffnet und starrte mich aus eisblauen, stechenden Augen an.
Ich schätzte ihn mindestens drei Jahre älter als mich. Vielleicht 19 oder 20.
Seine Klamotten waren ausgeleiert, aber er war keinesfall dünn oder schmächtig, sodass sie an ihm wirkten, wie eine übergroße Patchworkdecke. Eher im Gegenteil.
Harte Muskeln zeichneten sich wage unter den langen Ärmeln eines grauen Pullis ab und die kräftigen Beine waren von einer halb zerrissenen Jeans bedeckt. Seine Füße steckten in zertretenen Chucks.
Durch die verschwuschelten Haare wirkte er noch sehr jungenhaft, was aber so gar nicht zur harten Miene passte, mit der er mich jetzt betrachtete.

"Äh." machte ich und ließ den Mülltonnendeckel mit einem lauten Scheppern auf den Boden fallen. Bei dem Geräusch fuhr der Fremde erschrocken zusammen.

"Hast du zufällig ein Taschentuch?"
Innerlich stöhnte ich auf.

Die hypnotischen Augen verengten sich zu Schlitzen, doch der Typ zog nur stumm ein sauberes Tempo aus seiner Hosentasche.
Dankend nahm ich es entgegen, darauf bedacht nicht seine Hand zu streifen, und wischte mir dann mit einem angewiderten Gesicht irgendeine Flüssigkeit von den Fingern.
Nur die Vorstellung, was das alles sein könnte, löste bei mir leichte Schauder aus.

Der Eisaugentyp räusperte sich einmal verhalten und sagte dann "Dürfte ich fragen, was du in der Nacht, an diesem Ort, um diese Uhrzeit hier tust?"
Ich zuckte gleichgültig die Schultern, blieb ihm aber eine Antwort schuldig.

Er schnaufte.
"Na ja, kann mir eigentlich auch egal sein. Ich rate dir nur, du verlässt am besten schnellstens den Hof, sonst wirst du dir nur unnötige Probleme einhandeln."

Ein wenig eingeschnappt reckte ich das Kinn. Ich musste mich an den Plan halten.
"Von dir lass' ich mir gar nichts sagen."

Ich sah die hervortretende Ader an seiner Stirn und bemerkte, wie er darum rang, Fassung zu bewahren.
"Ich meine, du bist ja nicht mein Vater, sonst wäre die Situation natürlich anders."
Kurze Pause.
"Hmm, ich denke, ich sollte ihn anrufen, damit er mich abholt." plapperte ich weiter. "Ich war heute nämlich mit meinen Freundinnen in einem Club. Der ist ganz in der Nähe. Schreckliche Musik, sag' ich dir. Aber die Drinks waren echt gut. Obwohl," ich tippte mir mit dem Zeigefinger ans Kinn " die Bezeichnung 'Besser als erwartet' vielleicht passender wäre. Warst du schon mal da?"

Der Fremde drängte sich mit zusammengepresstem Kiefer an mir vorbei zu den Mülltonnen und ließ seine schwere Last auf den, schon ohnehin viel zu hohen, Haufen fallen.
Missbilligend rümpfte ich die Nase.
"Sag' mal, wie lange ist eigentlich der letzte Besuch des Müllautos her?"
Eisauge hatte mir immer noch den Rücken zugekehrt und atmete tief ein und aus.
Eigentlich der perfekte Augenblick, ihn mit einem Schlag auf den Kopf das Licht auszuschalten.
Doch etwas hielt mich zurück.
Ich merkte nämlich, dass ich langsam Gefallen an der ganzen Sache fand.
"Wusstet du, dass Müllmänner voll viel Geld verdienen? Ein Freund aus meiner Grundschule wollte nämlich Müllmann werden." Hey, das ist wirklich wahr. "Na ja," ich runzelte die Stirn, was er natürlich nicht sehen konnte, weil er ja immer noch damit beschäftigt war, nicht gleich zu explodieren. "bis Camille Roye ihm darauf mitteilte, dass, wenn er diesen Beruf wählen würde, sie ihn niemals heiratet. Und ab da an, wollte er Superheld werden." beendete ich meinen Monolog stolz und war froh, dass ich mich kein einziges Mal verhaspelt hatte.

Mein neues IchWhere stories live. Discover now