1.2 Moíra - Schicksal

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Stunden vergingen, ehe sie einen weiteren Raum fanden. Zumindest kam es Taras so vor, als wären es Stunden gewesen. Genau konnte er es nicht sagen. Wie sollten sie nur feststellen, dass die sieben Tage vorbei sein würden, wenn er jetzt schon sein Zeitgefühl verlor? Dieser Raum glich dem anderen bis auf den letzten Stein, doch an seinem anderen Ende ging es nicht weiter in den selbstleuchtenden Gang, sondern eine bronzene Tür, wie die, durch die sie gekommen waren, verwehrte ihnen ein Weiterkommen.

Taras hielt sein Schwert umklammert und bedachte alle Ecken mit Argusaugen. Kein feindseliges Wesen regte sich in den Schatten, bereit, ihnen die Gedärme herauszureißen. Nichts in diesem Raum sah so aus, als wolle es sie töten. Taras' Puls raste in die Höhe und ein schwaches Kribbeln löste den Kloß, der seinen Hals ausgefüllt hatte. Mit hoffnungsvollen, leuchtenden Augen wandte er sich an seinen Bruder. „Das muss der Ausgang sein!"

Ohne darauf zu achten, dass sie in einer fremden Umgebung waren, rannte er los. Die Schritte seines Bruders hallten hinter ihm, als er ihm folgte, doch er drehte sich nicht um, um nachzuschauen, ob das Mädchen mit dem Namen Aigis ihnen ebenfalls hinterherlief.

„Ja!", rief nun auch Orion und wollte die Bronzetür, die er vor Taras erreicht hatte, aufreißen, aber sie bewegte sich keinen Millimeter. Es schien beinahe so, als wäre sie Teil der Wand und wäre gar nicht dafür geschaffen, aufgestoßen zu werden, wären dort nicht die Abnutzungsspuren im Stein, die ganz deutlich zeigten, dass dieses Tor oft genug auf- und wieder zugestoßen worden war. „Was, bei den Göttern, soll das?!"

Die Tür ließ sich nicht bewegen, egal, wie sehr Orion und Taras auch daran zogen. Selbst ihre kombinierte Kraft reichte nicht aus, um das massive Tor auch nur eine Elle über den Stein zu ziehen. „Soll es das sein?", fragte Taras. „Müssen wir jetzt mit der schwächsten Hoffnung hierbleiben und warten, ob diese Tür am Abend des siebten Tages geöffnet wird?" Seine Stimme zitterte vor verzweifelter Wut. Jede Euphorie und Aufregung war seinem Körper entwichen und ließ nichts als bodenlosen Ärger, Furcht und Hoffnungslosigkeit zurück.

„Nein", ertönte eine Antwort, doch die Stimme kam nicht von seinem Bruder. Auch Aigis hatte nicht gesprochen.

„Wer da?", fragte Orion und erhob sein Schwert in Angriffshaltung.

„Euer Weg wird sich öffnen", sprach die Stimme, die die einer Frau war, tief und doch melodisch. „Doch zuerst müsst ihr eine Prüfung bestehen."

„Zeigt euch!", rief der Älteste nun lauter und schwang sein Schwert, wahrscheinlich in der Hoffnung, einen unsichtbaren Feind damit zu erschlagen. „Ich reiße euch den Kopf mit meinen bloßen Händen ab!"

„Zügelt eure Wut, junger Held", sprach die Frauenstimme. „Dies ist keine Prüfung der Stärke oder des Herzens."

Ein strahlendes Licht erschien in der Mitte des Raumes. Es hatte die Form einer hochgewachsenen Menschenfrau mit wallenden Haaren.

Mit der Hand musste Taras seine Augen abschirmen, als das Licht so hell strahlte, dass es den ganzen Raum ausfüllte.

„Seht zu mir, junge Helden", sagte sie, nur einen Moment später. „Ich möchte eure Gesichter sehen."

Zögerlich sah Taras auf und erkannte eine wunderschöne Frau mit schwarzen Haaren in einem weißen Chiton, wie ihn die vornehmen Damen trugen, sehen. Sie hatte ein Füllhorn mit kleinen Flügeln in der Hand, die sich leicht, wie bei einer Frühlingsbrise, bewegten, als würden sie sich in die Luft erheben, wenn die Frau das Horn loslassen würde. Er konnte die Gestalt nicht lange ansehen. Je länger Taras die Augen auf ihrem Gesicht ließ, desto verschwommener wurden ihre Konturen, als würde sie langsam wieder eins mit dem Licht werden. Ihm verging der Atem, als er bildhübsches Gesicht sah, welches so aussah, als hätte es Dädalus persönlich in Marmor gehauen. Jedwede Verzweiflung schien ihn wieder zu verlassen, als er sie anblickte.

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