9.2 Aetós - Adler

284 43 48
                                    

Und er kam rasend schnell näher.

Taras murmelte ein Gebet zu den Göttern. Dieses Mal sprach er den großen Zeus direkt an, in der Hoffnung, er würde ihm antworten und sich vielleicht sogar seinem ungläubigen Bruder zu erkennen geben, doch jede Antwort blieb aus. Stattdessen wurde das Gefühl der Beklemmung stärker.

Doch das, was sie erwartete, war kein bösartiges Monstrum mit schrecklichen Klauen, bereit, sie in Einzelteile zu reißen, sondern eine zwei Mann hohe Steinmauer aus massiven, schwarzen Platten. Die drei blieben erschrocken stehen, als sie um die Ecke bogen und plötzlich in einer Sackgasse endeten.

Der Hall, der in dem Gang herrschte, ließ Taras verwundert aufblicken. Er wirkte hohl und sämig. Zwischen der niedrigeren Decke, die sonst im Schatten verschwand, gab es einen Hohlraum, gerade breit genug, dass einer von ihnen sich hindurch quetschen könnte.

„Was jetzt?", fragte Aigis leise und verzweifelt klingend. „Ich... ich kann da nicht raufklettern."

„Vielleicht sollten wir umkehren", sagte Taras. „Einen der anderen Wege probieren."

„Oder wir versuchen es", meinte Orion. „Hinter dieser Mauer könnte etwas sein, das wichtig für uns ist. Nicht unbedingt ein Ausgang, aber... ich bin mir nicht sicher, ich habe dieses Gefühl, dass wir dort rüber klettern müssen."

„Und wie?", erwiderte sein Bruder. „Der Stein hat keine Rillen oder Furchen, an denen wir uns festhalten können. Wir haben keine Ausrüstung. Wir können dort nicht herüberklettern."

Orion kniff die Augen zusammen. Er ging die vielleicht ein Dutzend Schritte breite Mauer ab und fuhr mit der Hand über den viel zu glatten Stein, dann drehte er sich um und sah zur Decke. Er wirkte nachdenklich und sagte nichts, als er herumfuhr und an der Mauer empor blickte.

Seine Lippen bewegten sich zwar, aber doch blieb er stumm. Ab und zu schüttelte er den Kopf und einmal zog er sogar sein Schwert, als wolle er es in den Stein rammen und so die Mauer zum Einsturz bringen, doch dann steckte er es ein.

Taras und Aigis blieben stumm und ließen ihn nachdenken. Immerhin war er es, der dort herüber klettern wollte.

„Das schaffen wir nicht", flüsterte Aigis leise mit ängstlicher Stimme. „Der Stein ist zu glatt und ich bin wirklich nicht gut im Klettern."

„Ich weiß", erwiderte Taras ebenso leise. „Aber vielleicht fällt ihm etwas ein." Er glaubte selber nicht daran. Sein Bruder mochte zwar stark sein und in einem echten Kampf wissen, was er tun musste, doch das hier war kein Kampf und auch kein Feind, den sie niederstrecken mussten. Es war nur eine Mauer, die überwunden werden wollte und dort würden all die Strategien für eine Schlacht nichts bringen, so gut ausgetüftelt sie auch sein mögen.

„Sie wird hier nicht ohne Grund stehen", sagte Orion und blickte die beiden an. „Die Mauer schützt vielleicht etwas."

„Vielleicht schützt sie ja auch uns", schlug Aigis hoffnungsvoll vor. „Wir sollten einfach umkehren."

Orion schüttelte den Kopf. „Nein... nein, wir müssen es herausfinden. Ich weiß es einfach."

„Lass uns nicht zu viel riskieren", erinnerte Taras ihn. „Wir beide können nicht klettern."

„Müsst ihr nicht. Ich weiß schon ungefähr, was wir machen können. Du stellst dich auf meine Schulter und hebst dann Aigis hoch, dann kann sie auf der anderen Seite herunterklettern und - "

„Bei den Göttern, nein!", rief Taras aus. „Wenn wir sie dort auf der anderen Seite herunterlassen, dann ist sie vollkommen alleine! Was, wenn dort ein grausames Monster wartet? Willst du sie etwa ihrem Tod überlassen und dann einfach weiterziehen?"

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt