5.2 Psalída - Ranke

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Taras wusste nicht, ob es die Rache des Labyrinthes war oder ob es vielleicht die Antwort auf den vermeintlichen Frieden gewesen war, aber er war vorbei. Die Luft knisterte wie bei einem Sturm, aber sie wussten jetzt alle, dass sie niemals sicher sein würden. Nicht, solange sie noch in den Mauern dieses Bauwerks waren. Solange sie im Inneren des Labyrinthes waren, würde entweder es selbst oder der Minotaurus versuchen, nach ihrem Leben zu trachten.

Es dauerte einige Zeit, bis Aigis sich wieder beruhigt hatte, doch auch, als sie aufgehört hatte zu zittern, wollte sie Orions Arm nicht loslassen. Sie schien all ihren Mut verloren zu haben, den sie sich durch die Hilfe der Göttin Hera angeeignet hatte und war wieder das ängstliche Mädchen, welches die Wachen angefleht hatte, dass sie sie nach Hause ließen.

„Es ist okay", murmelte Orion immer wieder, der seinem Bruder überforderte Blicke zuwarf und ihn stumm anflehte, ihm zu helfen.

Doch auch Taras konnte ihr nicht zureden. Sie hatte Angst und wollte nicht alleine sein, sie hätte sich wahrscheinlich kein Stück weiterbewegt, wenn Orion und Taras nicht darauf bestanden hätten, dass sie immer weiterlaufen mussten.

Als jedoch selbst die beiden Brüder zu müde wurden, um weiterzulaufen und Taras' Gedanken sich nur noch im Kreis drehten, beschlossen sie, dass sie sich einen sicheren Ort zum kampieren suchen sollten. Sein Rücken pulsierte in einem schmerzvollen Rhythmus und er wollte nichts lieber tun, als sich hinzulegen und sich auszuruhen.

Sie schienen nach den mordlustigen Ranken Glück zu haben, denn keine Stunde später betraten sie einen weiten, leeren Raum, dessen Steinmuster sich von dem der Gänge unterschied. Erleichterung durchfloss seinen Körper, als er dem monotonen Weg entkam und einen Fuß in das neue Zimmer setzen konnte.

Auf den ersten Blick hatte Taras es nicht erkennen können, doch nach ein paar Momenten, die er die Formen eingehend betrachtet hatte, ging ihm auf, dass es sich bei dem Mosaik um den Sternenhimmel und die Sternbilder handelte.

Voller Faszination betrachteten sie die vielen weißen Steine, die manchmal so rund waren und dann wieder so voller Ecken, die in den Boden eingelassen waren. Vielleicht, so dachte Taras, würden sie ja sogar leuchten, wenn es Nacht werden würde und dann hätten sie in diesem Raum den schönsten, künstlichen Nachthimmel, den es gab.

„Das ist der Schwan", sagte Orion und betrachtete eine Konstellation zu seinen Füßen. „Und das... ah."

„Orion", fügte Taras hinzu und konnte ein mattes Grinsen nicht verhindern. „Der Legende zufolge soll der Jäger Orion von der Göttin der Jagd, Artemis, getötet worden sein", erklärte er an Aigis gewandt, die zwar nicht gefragt hatte, aber durchaus verwirrt dreinsah. „Nach ihrer Tat soll sie es so bereut haben, dass sie ihn zu den Sternen schickte, zusammen mit seinen Jagdhunden Sirius und Procyon, die als die Hundssterne bekannt sind. Orion indes ist das Sternbild des Jägers und mein Bruder wurde danach benannt."

Orion sah darüber nicht glücklich aus.

„Es ist grässlich", sagte er. „Aber nicht der schlimmste Name, den man haben kann." Er hielt sich eine Hand vor den Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. „Aber egal. Lasst uns rasten und essen."

Aigis setze sich so nah wie es ging an Orion heran und begann dann ziemlich lustlos an einem Apfel zu knabbern, den sie aus ihrem Beutel geholt hatte. Die Brüder bedienten sich an ihren mitgenommenen Speisen aus Tyches Raum und schon bald hatten sie den Vorfall mit den Ranken vergessen und unterhielten sich angeregt über die Geschehnisse des Tages, während Aigis nur stumm zuhörte.

Erst, als das Mädchen schon beinahe im Sitzen eingeschlafen wäre, verkündete Orion: „Wir sollten schlafen."

„Ich übernehme den Wachdienst", sagte Taras sogleich, noch bevor sein Bruder dies vorschlagen konnte. Die Pein in seinem Rücken juckte und zwickte mit jeder Bewegung, doch wenn er stillsaß, dann war es zu ertragen. „Noch bin ich gar nicht wirklich müde. Ihr beiden schlaft ruhig."

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