8.2 Aínigma - Enigma

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Dias achtete mit hämmerndem Herzen, schweißnassen Händen und weitaufgerissenen Augen darauf, dass sie nicht zu schnell gingen. Das Licht des Ganges, aus dem sie kamen, leuchtete ihnen zwar nicht den ganzen Weg, dafür konnte er aber erkennen, dass dieser dunkle Pfad aus anderem Stein erbaut war, also vielleicht sogar moderner war, als das Labyrinth an sich. Der Lichtkegel verflüchtigte sich bereits nach wenigen Schritten, und auch wenn Dias sicherging, dass sie sich nicht zu schnell vom Eingang entfernten, kamen sie viel zu schnell voran. Vaia wollte nicht langsam gehen.

Es kam, wie es kommen musste. Kaum, dass sie dreißig Schritt vom Eingang entfernt waren, musste jemand von ihnen einen verstecken Schalter oder Ähnliches aktiviert haben, denn erneut rumorte der ganze Gang und wenige Momente später schloss die Wand sich, durch die sie getreten waren.

„Nein!", rief Sotiris aus und wollte darauf zulaufen, doch es war zu spät. Die Wand war verschlossen und sie waren gefangen in der Dunkelheit.

Zumindest dachten sie das.

Kaum, dass das Rumoren aufgehört hatte, wurde der Pfad von gleißendem Licht erleuchtet, das sie blendete. Dann hörte Dias ein Geräusch vor ihnen und es klang wie das Kratzen von Stein über Stein.

Vor ihnen erstreckte sich nicht, wie sie vermutet hatten, ein endlos langer Gang, sondern ein Raum. Er war gefüllt mit hölzernen Tischen, auf denen kleine Statuetten standen, die aussahen, wie Figuren der Götter. An den steinernen Wänden hingen allerlei Werkzeuge: Hämmer und Spachtel, eiserne Nägel und einige Dinge, die Dias nicht kannte. Die Steine, aus dem dieser Raum erbaut worden war, waren dunkler, als die anderen. Beinahe schwarz, hatten aber, fand Dias, eher die Farbe von Tinte und sahen überaus edel aus. Beinahe meinte er, dass er sich in dem Stein spiegeln konnte.

Die Wände waren mit Pergamenten voll mit Zeichnungen und Skizzen behangen. Dias konnte eine kleine Version eines stymphalischen Vogels erkennen. Und das mythenhafte Bildnis einer Sirene, die mit ihrem Gesang einen sterblichen Seefahrer anlockte. In ihrer Nähe gab es einen hölzernen Tisch voll mit Pergamenten, auf denen Bilder der Gorgone namens Medusa abgebildet waren, die mit ihrem Blick Menschen zu Stein verwandeln konnte. In einem plötzlichen Anflug von Panik fragte er sich, ob die Medusa vielleicht ebenfalls hier auf sie warten würde. Oder die Sirenen. Woher sollten sie denn wissen, welche Schreckgestalten König Minos in das Labyrinth gebracht hatte, ohne ihn oder Dädalus je danach fragen zu können?

Unter all den Steinfiguren der Götter konnte Dias auch schimmerndes Bronze ausmachen. Es sah aus, als hätte Dädalus versucht, aus dem weichen Metall ebenfalls Statuen zu erschaffen. Als ob er die mechanischen Bullen aus Kolchis nachmachen wollte... Er wusste, dass Dädalus ein Genie war, aber konnte er ebenfalls solch tödlichen Apparate erschaffen?

Das, was jedoch sofort ins Auge stach, wenn man den Raum betrat, war die mächtige, steinerne Sphinx, die vor einer goldenen Tür aus zwei Torbögen stand. Die Tür an sich war schlicht, aber schön. Sie hatte einen verzierten Rand und ein Muster aus Ranken in der Mitte.

Doch die Sphinx, die aus goldgelbem Stein bestand, der wie Sonnenschein auf Marmor aussah, war das, was einem den Atem raubte. Sie war groß. Viel größer als Dias oder Sotiris und viel größer als König Minos. Sie hatte den Körper eines Löwen mit gigantischen Tatzen und den Kopf einer wunderschönen Frau mit gütigen Augen und einem goldenen Kopfschmuck in den schulterlangen Haaren. Auf ihrem Rücken trug sie zwei enorme, steinerne Flügel. Dias wusste nicht, ob sie damit wirklich fliegen konnte, er wollte es aber auch nicht herausfinden.

„Woah", hauchte Vaia schwer beeindruckt und schwankte ein bisschen zurück. „Das ist nicht Dädalus."

Als ob die Sphinx auf ihre Worte reagieren würde, wandte sich ihr Kopf und erneut klang es, als würde Stein über Stein kratzen. Die Augen richteten sich genau auf Vaia, als ihr Menschenmund sich öffnete und eine Reihe spitzer Raubtierzähne aus Elfenbein offenbarte.

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