26.1 Pónos - Schmerz

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„Das ist die dümmste Idee, die du je hattest!", rief Sotiris aus und warf die Arme in die Luft. „Wie kannst du denn auch nur ansatzweise denken, dass das gut ausgehen wird?"

Vaia, deutlich kleiner als der aufgebrachte Junge, funkelte ihn mit verschränkten Armen an. „Fällt dir etwas besseres ein? Denn ich kann mich nicht erinnern, in den letzten Stunden von jemandem von euch einen Vorschlag gehört zu haben. Wir können dieses dämliche Tor gerne noch länger anstarren, davon wird es sich aber nicht öffnen." Sie deutete mit einem Kopfnicken auf das goldene Doppelflügeltor, welches direkt in die Wand eingelassen war und nahtlos mit den Steinen der Decke verschmolz. „Ich bin die Kleinste von uns dreien. Also ist es nur logisch, wenn ich zurückgehe."

„Was ist denn daran bitte logisch?", fragte Sotiris mit einem wütenden Funkeln in den Augen. „Willst du etwa auch noch sterben!?"

Seinen Worten folgte eine unangenehme Stille, die in Dias' Ohren laut wie das Beben der Erde hallte. Er schluckte schwer und spürte das vertraute Brennen in seinen Augen, welches seit Elaras Tod immer wieder auftauchte. Dias wandte den Blick von Sotiris ab. So sehr er den anderen Jungen mochte, er konnte ihn nicht ansehen, wenn er solche Sachen sagte. Die Wunde war frisch und tief. Er brauchte niemanden, der ihm Salz hineindrückte.

„Tut mir leid", murmelte Sotiris. Er hob den Arm und kratzte sich am Hinterkopf, bevor er sich mit den Fingern übers Gesicht fuhr. „So meinte ich das nicht."

„Schon gut", sagte Dias. „Aber du hast Recht." Er wandte sich an Vaia. „Du kannst das nicht ernst meinen."

„Mir fällt aber nichts ein, was wir sonst machen können", erwiderte das Mädchen ruhig. „Wie lange sitzen wir hier schon? Einen Tag? Zwei? Wir haben alles versucht."

„Aber es muss etwas geben, das man noch tun kann", sagte Sotiris mit gequälter Stimme.

„Sag Bescheid, wenn es dir einfällt." Vaia knirschte mit den Zähnen. „Glaub mir, mir gefällt es genauso wenig wie euch, aber wenn wir diese kleine Chance nicht ergreifen, verhungern wir hier drin. Und ich für meinen Teil will hier drin nicht sterben. Nicht nachdem –" Sie stockte und biss sich auf die Lippe. „Ich will diese Chance ergreifen, Jungs."

Dias schloss für einen Moment die Augen, versuchte nicht an Elaras leblosen Körper in Erebos' Faust zu denken, die von den Schatten verschlungen wurde. Sie war bereits in seinem Traum vorgekommen, hatte mit schwachem Stimmchen um Hilfe gebettelt, ehe sie in der Dunkelheit verschwunden war. Schuld zerfraß Dias. Er fühlte sich schuldig, dass Elara gestorben war. Hätten sie sie als zweites durch den Spalt geschickt, dann wäre sie noch am Leben. Er mochte sich überhaupt nicht vorstellen, wie viel Angst das Mädchen verspürt haben musste, als sie ganz allein auf der anderen Seite der Wand gefangen gewesen war und das Beben der Welt begonnen hatte. Sie hätten nicht wissen können, dass sowas passieren würde und dennoch... Dias wusste, das Mädchen würde noch leben, wenn sie zumindest vor Vaia durchgegangen wäre.

Aber hätte Vaia überlebt, wenn Elara es geschafft hätte? Es war eine Situation, die nur verloren werden konnte. Jemand wäre in jedem Auskommen gestorben und – Dias hasste sich dafür, dass er das dachte – aber er war froh, dass es nicht Vaia erwischt hatte. Das Mädchen hatte bereits bewiesen, dass sie auch im Angesicht mit dem Tod einen Plan ausarbeiten konnte. Elara war unschuldig und klein und sie hatte es nicht verdient, zu sterben, aber es war ihr Ausweg aus diesem Höllenloch gewesen. Er hoffte, dass Elara ins Elysium aufgenommen wurde. Sie war vielleicht keine mythenhafte Heldin gewesen, aber wenn jemand von ihnen eine Chance auf die Wiedergeburt verdient, dann sie.

Dias schreckte auf, als warme Finger über seine Haut strichen, nur hauchzart und für den Bruchteil eines Augenblickes, aber lang genug, damit die Erinnerung daran seine schlechten Gedanken verbannte.

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