23.1 Mystikó - Geheimnis

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Medeias Träume waren mit gigantischen Raben und Schlingpflanzen aus dichtem, schwarzen Haar gespickt, die sich um ihre Knöchel wickelten und langsam auf ihre Kehle zu krochen, während die dunklen Vögel sie mit weißen Augen anstarrten und mit ihren Schnäbeln durch die blinde Dunkelheit schnappten. Das Mädchen hatte nicht die Kraft, sich zu wehren. Jedes Mal, wenn sie glaubte, es wäre jetzt vorbei, verzog sich das schwarze Haar wieder in die Düsternis, in der sie schwebte, nur um sie einen Augenblick später wieder an ihren Knöcheln zu packen. Ein Gefühl, wie in Eis getaucht zu werden, leckte ihre Haut entlang. Es war eine grausame, langsame Tortur, die nicht aufhören wollte. Die Raben taten nichts weiter, als sie anzustarren und gelegentlich mit den Flügeln zu rascheln. Ihre Federn kitzelten über ihren Kopf oder ihre Arme, wenn sie versuchte, sich ihnen in der Hoffnung auf Hilfe entgegenzustrecken. Helft mir doch, wollte sie flehen, aber kaum öffnete Medeia den Mund, fing sie an zu würgen, als ihr der lebensspendende Atem im Hals stecken blieb. Sie wollte husten und spucken, aber alles, was ihren Rachen ausfüllte, waren dichte, rebenhafte Haarsträhnen.

„Du verdienst das", flüsterte eine Stimme in der Ferne. Ein leises Rasseln erfüllte ihre Ohren und vermischte sich mit dem Flattern der Rabenflügel zu einer angstverströmenden Kakophonie. „All das Leid und die Qualen. Eine Strafe."

Medeia hatte nicht die Kraft, zu fragen, wer dort war und noch weniger hatte sie die Zeit, sich darum zu sorgen. Das Rasseln kam näher. Die Erinnerung an das widerwärtige Geräusch erfüllte die Dunkelheit in ihrem Kopf. Alekto, flüsterte sie heiser in Gedanken. Diese winzige Anstrengung reichte aus, damit die würgenden Haare sich weiter um ihren Unterkörper schlangen und das Mädchen wie einen nasses Sack zusammendrückte. Ihr Körper war taub vor Schmerz.

„Ich darf dich noch immer nicht verletzen", flüsterte die Rachegöttin in ihren Gedanken. „Noch immer ist es mir nicht vergönnt, dich zu bestrafen. Zumindest... fast."

Medeia hörte das düstere Grinsen in ihrer Stimme. Die Angst steckte ihr als großer Kloß im Hals.

„Körperlich darf ich dir nichts antun. Aber ich habe keine geistigen Grenzen auferlegt bekommen. Ich darf dich foltern; brechen. Ich kann dir all die Schmerzen des Tartarus näherbringen und ich kann dich um Gnade winseln lassen. Ich könnte dir einen grausamen Traum anhängen, der ewig anhält, obwohl du in deinem körperlichen Selbst nicht eine einzige Stunde alterst. Du würdest mit der gebrochenen Seele einer Eintausendjährigen erwachen." Alektos Ketten rasselten, als sie sich mit einem Schlag ihrer haarigen Flügel manifestierte. Ihr Kopf war durch einen Schleier schwarzer Strähnen verdeckt, als sie sich dem Mädchen immer weiter nährte.

Medeia konnte ihren gierigen Atem auf ihrer Haut spüren. Ihre Glieder waren gefesselt. Ihr Geist war gepeinigt. Ihr Körper war schwach und geschunden. Sie wusste nicht einmal mehr, wie lange sie schon in dieser ewigen Dunkelheit lag. Es kam ihr vor, als wären nur wenige Minuten vergangen, seit sie in einen tiefen Trauerschlaf gefallen war, aber wenn Alektos Worte wahr waren, dann könnten bereits Jahre dieser Tortur vergangen sein.

Alektos Haarschleier teilte sich, aber das Antlitz, welches sie mit traurigen Augen anblickte, war das Produkt eines nie enden wollendes Albtraumes. Theia starrte sie an, den Mund zu einer harten Linie verzogen, einige blutige Spritzer im Gesicht und Tränen liefen ihr aus den Augenwinkeln.

Wenn Medeia hätte schreien können, dann hätte ihr Echo ausgereicht, die Dunkelheit zum Splittern zu bringen.

„Warum würdest du so grausam sein?", fragte ihre Schwester leise. Ihre Stimme war schwach. Beinahe tot. „Wie kannst du mir das antun?"

„Medeia!" Der Schlag einer Handfläche hinterließ ein kribbelndes, brennendes Gefühl auf ihrer Wange.

Das Mädchen riss die Augen auf und fragte sich, wann sie angefangen hatte zu weinen. Sie lag auf dem Boden, hatte die Arme und Beine von sich gestreckt und war sich mit einem Schlag der Schmerzen bewusst, die ihren Rücken durchzogen. Der salzige Geschmack ihrer eigenen Tränen auf ihrer Zunge vermischt sich mit dem miesen Geruch des Schlafs, der sich im Raum manifestiert hatte.

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