14.1 Apóleia - Verlust

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Die Stille, die dann einkehrte, war die grausamste, die Eos je erlebt hatte. Der riesige Raum erdrückte ihn. Die Angst schnürte ihm die Luft ab und alles, woran er denken konnte, war, dass er zu schwach gewesen war.

Vor ihm lag ein toter Junge und er hatte nichts unternehmen können, um ihm zu helfen. Um ihn zu retten. Lediglich tatenlos zugesehen, dazu war er fähig gewesen.

Eos ballte seine Hände zu Fäusten, rammte seine Fingernägel tief in seine Haut, bis sie sich in sein Fleisch gruben, bis warmes Blut hervorquellte.

Castor sah in keiner Weise so aus, als würde er friedlich schlafen. Seine Augen waren weitaufgerissen, im letzten Abschnitt seines Lebens mit Furcht gefüllt, dunkelrotes Blut bedeckte seine verzerrten Mundwinkel, seine Finger waren blutig gekratzt, die Fingernägel eingerissen und stumpf. Seine Lippen waren von dem Versuch, die Steine aus der Wand zu beißen, vollkommen zerstört, der Mund zu einem stummen Schrei aufgerissen. Er sah grausam aus.

In den letzten Minuten seines Lebens hatte er gelitten, hatte die schrecklichsten Schmerzen ertragen, während sein Körper von innen heraus gebrannt hatte und war ihnen schließlich erlegen und nun lag er vor ihnen. Tot. Geschunden. Hilflos.

„E-Es ist nicht fa-fair", schluchzte Calypso atemlos. Ihre Hände hielt sie vor ihrer Brust verkrampft und wiegte langsam vor und zurück, als würde es den Schmerz erträglicher machen, der ihr Herz zerriss.

„Nichts ist fair", brachte Lyra hervor, die sich als einzige der drei Lebenden noch auf den Beinen hielt.

Eos kniete neben Calypso auf dem Boden und sein Blick schwamm in Tränen. Scham kochte in ihm auf. Nicht, weil er weinte. Sondern, weil er sich so nutzlos fühlte. Castor war mutig gewesen. Er hatte einem wahnsinnigen Gott die Stirn geboten und auch wenn er den Preis, der viel zu hoch gewesen war, dafür gezahlt hate, so hatte er gesprochen und nicht geschwiegen. Er hatte sich nicht einschüchtern lassen. Castor war stolz auf sich gewesen, stolz auf seinen Namen. Er hätte seinem Namen alle Ehre machen können und er hätte ein Held werden können.

Aber jedwede Chance dafür war ihm geraubt worden.

Er war tot.

„Wir – ich hätte viel mehr machen müssen", flüsterte Calypso und ihre Stimme brach Eos das Herz. Sie klang so unendlich verloren. „Ich konnte doch Dionysos' Fluch – seinen Fluch brechen. Ich konnte sprechen", fügte sie leiser hinzu, der Klang ihrer Worte wie ein Windhauch.

„Wir haben getan, was wir konnten", sagte Lyra und Eos blickte auf. Ihre Hände waren in ihr Gewand gekrallt. Sie zitterte am ganzen Körper. Zwar waren ihre Augen nicht gerötet, aber wenigstens zeigte sie eine gewisse Gefühlsregung. Sie war vielleicht nicht Castors beste Freundin gewesen, aber sein unnötiger Tod ließ sie nicht kalt. „Die Macht eines Gottes übersteigt unsere bei Weitem. Castor hat – er hat – er war dumm."

„Sag das nicht!", wisperte Calypso.

Eos wünschte sich, sie hätte geschrien. Dann hätte er den Bruch in ihrer Stimme nicht so stark vernommen. Er hätte nicht hören müssen, wie etwas in ihr zerbrochen wäre. Und er hätte nicht sehen müssen, wie ein weiterer ihrer Dämme eingefallen wäre.

„Sag sowas nicht", flüsterte sie erneut.

„Ich will ihn nicht schmähen", erwiderte Lyra knapp angebunden. „Aber er hat diesen Pfad gewählt."

„Castor wollte nicht sterben", sagte Eos und blickte ihr tief in die Augen, seine Wangen von Tränen benetzt. „Er wollte leben."

„Wir alle wollen leben", antwortete sie. „Es ist grauenvoll." Sie nickte der Leiche des Jungen knapp zu. „Aber wollt ihr jetzt für immer trauern? Um ein Kind? Welches ihr nicht kanntet?"

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt