6.1 Óneiro - Traum

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„Es ist nur fair, wenn Eos den Dolch bekommt", sagte Calypso und warf Eos einen düsteren Blick zu, weil er abwehrend die Hände hob.

„Ich brauche ihn nicht, wirklich. Lyra soll ihn nehmen, sie kann damit bestimmt besser umgehen als ich." Eos blickte zu Lyra, die die Augenbrauen zusammenzog.

„Aber du hast ihn geholt!", erwiderte sie langsam, als könnte sie nicht ganz verstehen, warum er ihr eine Nettigkeit anbieten sollte.

„Ich habe mein Schwert", entgegnete er und tätschelte wie zum Beweis die Schwertscheide an seiner Seite. „Außerdem passt so ein Dolch viel besser zu ihrer Statur. Sie ist klein und flink, kann aber trotzdem ziemlich hart zustechen, wenn es sein muss. Noch dazu sympathisiert ein Dolch so viel besser mit einem Bogen als mit Schwert und Schild. Wirklich, nimm ihn."

Castor hatte den Schlagabtausch schweigend beobachtet und war wohl froh, dass er sich nicht für eine Seite entscheiden musste. Seit sie mit Eos' neugewonnenem Dolch aus dem Scherbenmeer weitergegangen waren, war Calypso nicht müde geworden anzumerken, dass er rechtmäßig ihm zustand, da er die Risiken dafür eingegangen war. Eos hatte abgewehrt.

„Es gefällt mir nicht", gab Calypso zu. „Aber gut. Es ist deine Entscheidung. Bereue sie nicht."

Er lächelte sie an, in der Hoffnung, sie zu beruhigen, doch es endete in einer kurzen, schmerzerfüllten Grimasse, als er an der nächsten Biegung die Richtung zu hektisch änderte. Die Wunde an seiner Hüfte brannte dadurch wie Feuer.

„Vielleicht sollte ich mir das noch einmal ansehen", sagte sie nachdenklich.

„Nein", erwiderte er schnell. „Wir haben keinen Stoff mehr, um es neu zu verbinden. Wir müssten noch einen Beutel opfern, oder vielleicht ein Hemd. Lass es einfach, das wird schon."

„Aber –", fing sie an, doch Lyra unterbrach sie mit einem lauten, genervten Räuspern.

„Jetzt lass es gut sein", fauchte sie Calypso an. „Es gibt keinen Grund dafür, dass du für ihn sorgen musst. Wie Eos bewiesen hat, kann er sehr gut auf sich allein aufpassen", sagte Lyra zwischen zusammengebissenen Zähnen heraus, als würde sie es nicht gerne zugeben. Obwohl sie mittlerweile schon auf den Augenkontakt umgestiegen war, vermied sie es dennoch, einen der beiden Jungen zu lange anzusehen.

Eos vermutete, dass sie keine guten Erfahrungen mit Männern gemacht hatte. Vielleicht würde er mal die Möglichkeit haben, sie darauf anzusprechen, wenn sie einen ruhigen Moment hätten und er der Meinung war, dass sie ihn aufgrund seiner Dreistigkeit nicht gleich mit dem Dolch erstechen würde.

„Ich will nur nicht, dass sich seine Wunde entzündet", erwiderte Calypso bissiger als üblich. „Falls es dir nicht aufgefallen sein sollte, Lyra, wir haben hier keine Medizin zur Verfügung. Wir sind auf uns alleine gestellt."

„Das weiß ich sehr wohl, Prinzesschen", gab sie zurück und ihre Finger zuckten gefährlich, als wolle sie wirklich ihren neuen Dolch ziehen und ihn verwenden. „Aber du musst nicht –"

„Jetzt reicht es!", rief Eos erbost aus, dem die Streiterei seiner beiden Kameradinnen auf die Nerven schlug. Der unnachgiebige Widerspruch ließ die beiden zusammenzucken. Sie blickten ihn teils erschrocken, teils empört an. Bisher hatte er die Stimme noch nicht wütend erheben müssen. Sein Vater hatte einmal gesagt, sie wäre, wenn sie wirklich wütend war, wie ein Donnersturm, tobend und angsteinflößend. Deswegen wollte er es eigentlich verhindern, laut zu werden, wenn es ging. „Wir sind eine Gruppe. Wenn wir uns nur streiten, dann sterben wir!"

„G-Genau", mischte sich nun Castor ein, der zuvor stumm an seiner Seite gelaufen war und den Eos bis vor einige Augenblicke sogar fast vergessen hatte.

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