3.1 Dóry - Speer

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Der Eingang in das Labyrinth war hinter dem Thronsaal des Königs von Kreta. Es führte eine Arkade aus rechteckigen, weißen Steinquadern im Boden und verschnörkelten, vergoldeten Säulen an den Wänden aus dem Regentschaftssaal. Zwischen den Pfeilern gab es runde Fenster, durch welche Sonnenlicht einfiel und in den Metallhalterungen an den Säulen steckten Fackeln, die am Tage jedoch nicht brannten. Allgemein betrachtet war es ein sehr hübscher Weg und auch die Pforte aus purem Gold war wunderschön anzusehen. Medeia hätte sie gerne den ganzen Tag betrachtet, um sich all ihre Schönheit genau einzuprägen, doch unglücklicherweise hatten die beiden grobschlächtigen Tölpel, die König Minos ihnen als Wachen mitgegeben hatte, kein Auge für das Detail und zerrten sie weiter. Ihre ältere Schwester Theia stapfte missmutig neben ihr her und sie konnte es ihr nicht verübeln.

Theia war freiwillig mit ihrer Zwillingsschwester Vaia mitgekommen, um sie, Medeia, zu schützen, denn die Jüngste war die einzige der vier Schwester, die ausgewählt worden war, doch Vaia, die dritte im Bunde, war einer anderen Gruppe zugeteilt worden und auch all die Proteste, die sie aufgebracht hatte, hatten nicht gereicht. Medeia war sich nicht einmal sicher, ob die Wachen ihr überhaupt zugehört hatten, als sie Vaia von ihren Schwestern weggezerrt hatten. Sowohl Theia und Vaia als auch Lyra waren aus eigenen Stücken hier, nicht nur; um ihre Schwester, die nicht sehr stark oder kampflustig war, sondern auch, um ihre Familie zu schützen. Mit all dem Gold konnten sie ihren Eltern endlich ein gutes Leben ermöglichen, welches sie in ihren Augen mehr als verdient hatten.

Medeia hatte keine Angst. Obwohl sie keine Kämpferin war und in einem tödlichen Konstrukt gefangen sein würde, hatte sie keinerlei Angst. Erklären konnte sie es sich nicht. Eigentlich sollte sie am ganzen Leib zittern. Weinen und schreien. Sie sollte übelkeiterregende Angst haben und sich nicht mehr bewegen können, aber stattdessen fühlte es sich für sie mehr so an, als würde sie einen Spaziergang zum Markt machen. Vielleicht war es die Anwesenheit ihrer Schwestern, die sie so beruhigte. Vielleicht war es aber auch die Tatsache, dass sie immer gewusst hatte, dass sie irgendwann sterben würde. Oder auch die Tatsache, dass sie erst kürzlich diesen Traum gehabt hatte, den ihre Schwestern als Hirngespinste abgetan hatten. Medeia jedoch hatte es besser gewusst und direkt erkannt, was es gewesen war: Eine prophetische Botschaft vom Gott des Lichts, der Heilung und der Musik, Apollo, ihrem Schutzgott.

Er hatte ihr im Traum mitgeteilt, was sie und ihre Schwestern erwartete und vielleicht konnte sie sich dadurch damit abfinden, was geschehen würde. Wenn das Schicksal diesen Weg für sie vorhergesehen hatte, dann konnte sie, eine Sterbliche, daran sowieso nichts ändern. Sollte sie Apollos Worten Glauben schenken können – wovon sie natürlich ausging – dann würde auf sie ein Aufenthalt im Elysium warten, dem schönsten Teil der Unterwelt, für all die Seelen der Verstorbenen, die es sich in ihrem Leben verdient hatten. Deswegen konnte sie keine Angst haben.

Entweder, sie würde ihr schönes Leben mit ihrer Familie weiterführen, oder sie würde in die mit nektarreichen Quellen beschenkten elysischen Felder einkehren und dort die Ewigkeit in Glücksseligkeit verbringen.

Aber auch Medeia konnte nicht verhindern, dass es sie fröstelte, als sie schließlich die goldene Tür passiert hatten und in den ersten steinernen Gang des Labyrinths getreten waren. Es war hell genug gewesen, um die Umgebung zu sehen, doch dieses Licht war ihnen sofort genommen worden, als die Wachen ihnen grob die Augen verbunden hatten. Medeia hatte gespürt, dass man sie ein paar Mal im Kreis gedreht hatte, damit sie die Orientierung verlöre und das hatte ganz klar funktioniert. Als sie vergehende Schritte und schließlich das entsetzlich laute Zuschlagen der goldenen Tür vernahm, hatte sie nicht einmal mehr die Ahnung, von wo die Geräusche gekommen waren.

„Geht es dir gut, Medeia?", konnte sie jedoch sogleich die Stimme ihrer Schwester Theia vernehmen, die an ihre Seite eilte und ihr das Band von den Augen nahm.

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