9.1 Aetós - Adler

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Im Traum war Taras an einen Felsen gekettet. Ein riesiger Adler saß auf einem Ast einige Meter entfernt und blickte ihn aus eisblauen Augen direkt an, öffnete den Schnabel und ließ einen mächtigen Schrei ertönen, der auch ein Klagelied hätte sein können. Er stieß sich mit kräftigen Flügelschlägen vom Ast ab und flog genau auf ihn zu, riss an seiner Haut und der junge Held schrie vor Pein, doch der Raubvogel wollte nicht aufhören. Die Krallen hatte er tief in seinen Oberschenkel gebohrt, mit dem Schnabel pickte er nach ihm, zerriss mit seinen messerscharfen Krallen seine Haut und versenkte dann beinahe seinen ganzen Kopf in seiner aufgerissenen Hüfte.

Blut floss aus der Wunde und er wand sich in seinen Ketten, doch er konnte sich nicht befreien, noch konnte er den Adler dadurch verscheuchen, der seine Krallenfüße direkt in die Haut seines Oberschenkels gedrückt hatte. Mit einem erneuten Schmerzensschrei hatte der Raubvogel seine Leber herausgerissen und flog nun mit blutverschmiertem Schnabel davon, ein dunkelgrauer Punkt am strahlendblauen Himmel. Taras hing schlaff in seinen Ketten, während die Tortur ihm schwarze Sterne vor die Augen zauberte und er sich wünschte, er würde endlich sterben.

Doch anstatt der erlösende Tod einkehrte, begann ein brennendes Feuer seine Seite entlangzuziehen und die Haut, die der Adler aufgerissen hatte und die in Fetzen von seinem Körper hing, zog sich langsam zusammen, erneuerte sich, bis schließlich von der Wunde nicht viel mehr, als leicht gerötete Haut und etwas Blut zu sehen waren. Taras atmete schwer und rasselnd und richtete seinen Blick zum Himmel. In den Wolken glaubte er ein bärtiges Gesicht zu erkennen und flehte es an, ihm zu helfen.

Das Gesicht rührte sich nicht. Nur eine Stimme antwortete ihm.

„Vergiss niemals, dass du diesen Schmerz verdienst, Prometheus. Du hast dich unseren Gesetzen – den Gesetzen der Götter! – widersetzt! All das ist der Preis dafür, dass du den Sterblichen geholfen hast."

Ein Lichtblitz blendete seine Augen und als er erneut den mächtigen Schrei des Adlers hören konnte, erwachte er.

Zitternd lag er auf dem Steinboden. Sein Bruder schlief. Aigis auch, doch ihr Gesicht war verzerrt. Er wusste nicht, wie spät es war oder ob er wirklich geträumt hatte. Er wusste nur, dass irgendwas nicht richtig war.

Als er sich mit verschwitzten Haaren aufrichtete, bemerkte er, dass der Raum sich verändert hatte. Der Boden war nicht mehr mit den Sternenbildern des Himmels bedeckt, sondern glich nun jedem anderen Boden zuvor. Die Steine waren schlicht und grau und gleichmäßig.

„Oh, ihr Götter", murmelte er leise und richtete sich weiter auf. Taras winkelte seine Beine an. „Welchen Streich wollt ihr meinen Augen spielen?"

Keiner antwortete ihm und frustriert rieb er sich das Gesicht. Er war eingeschlafen, obwohl er doch den Wachdienst gehabt hatte. Aber war es wirklich so gewesen?

Die Erinnerung an die Nacht flossen erneut in sein Gedächtnis. Da war noch jemand im Raum gewesen und hatte mit ihm gesprochen, aber war das nur ein Traum gewesen? Denn wenn nicht, dann hatte der Göttervater Zeus ihn besucht und mit ihm gesprochen... Es musste ein Traum gewesen sein. Niemals würde der große Zeus sich zu den Sterblichen herabbegeben und mit ihnen sprechen. Zu oft hatte er bewiesen, dass er die Sterblichen nicht anerkannte, ja, sie regelrecht hasste.

Mit zittrigen Händen griff er nach seinem Proviantbeutel und holte seinen Trinkschlauch hervor. Sein Mund war fürchterlich trocken. Darauf bedacht, nichts von seinem kostbaren Wasser zu verschütten, nahm er einige Schlucke, dann verschloss er den Schlauch vorsichtig. Auch wenn sein Beutel mit Essen überquoll, an Wasser mangelte es ihnen. Er glaubte nicht daran, dass sein Trinkschlauch überhaupt den vierten Tag überstehen würde. Wenn denn überhaupt schon ein Tag vergangen war.

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