3.2 Dóry - Speer

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Die Zeit, die Aineas noch bei ihnen saß, verbrachten auch die beiden Schwestern in einvernehmlichem Schweigen. Einerseits sah Theia noch immer so aus, als würde ihr der Schock tief in den Knochen sitzen, anderseits hatte Medeia nicht die größte Lust, private Unterhaltungen zu führen, während dieser idiotische Schnösel sie belauschen konnte.

Endlich, nach einer gefühlten Ewigkeit, erhob er sich langsam. Die blonden Locken schwangen ihm in der Stirn und er bedachte die beiden Mädchen mit einem letzten, kalten Blick, ehe er sich von ihnen abwendete. Sie konnten hören, wie seine Schritte langsam aber sicher in der Entfernung verhallten.

Als Medeia sich sicher war, dass er nicht mehr da war – es herrschte absolute Totenstille um sie herum – hob sie wieder die Stimme.

„Wie sollen wir jetzt weitermachen?", fragte sie ihre Schwester.

„Ich weiß es nicht", gab diese bedrückt zurück. „Mehr, als tiefer in das Labyrinth eindringen, bleibt uns nicht übrig. Wenn wir hier sitzen bleiben, werden wir den Ausgang niemals finden und wer weiß, was uns dann noch findet. Der Minotaurus war sicherlich nur der Anfang." Sie schluckte schwer und ihre Hand verkrampfte sich um den Ledergriff des Schwertes. So hatte Medeia ihre Schwester noch nie erlebt. Theia war normalerweise immer sehr gefasst und bewahrte einen kühlen Kopf, wenn die Situation außer Kontrolle geriet, aber jetzt...

„Es wird alles gut werden", sagte Medeia mit leiser Stimme und versuchte neuen Mut in ihrer Schwester zu entfachen. „Wir haben uns und Vaia und Lyra sind auch hier drin. Es ist doch ein Leichtes für uns, hier drin zu überleben, oder nicht? Und stell dir nur einmal vor, wie viel Gold wir mit nach Hause bringen werden, wenn du und Lyra aufgewogen werdet." Sie lächelte und deutete mit einem Kopfnicken auf die muskulösen, kräftigen Arme ihrer Schwester. „Du wirst schon sehen."

Im Nachhinein fand Medeia sich unglaublich egoistisch. Natürlich, sie hatte keine Angst zu sterben, aber hatte sie auch nur einmal an ihre drei Schwestern gedacht, die nur ihretwegen mitten in dieses Höllenloch gegangen waren? Nein. Hatte sie nicht. Und sie hasste sich dafür.

Sie beschlossen, dass es das Beste sein würde, wenn sie sich immer an einer Wand halten würden. Irgendwann würden sie sicherlich etwas finden. Sei es der Ausgang oder vielleicht sogar etwas, was ihnen helfen konnte.

Doch je weiter sie liefen und je öfter sie versuchten, einen neuen Gang zu nehmen, es schien einerseits kein Ende nehmen zu wollen und andererseits alles gleich auszusehen. Jeder Stein in den Wänden war genau gleich groß; jede Fuge gleich breit; Jeder Gang gleich hoch und gleich breit. Es war, als wären sie in einem perfekten Konstrukt gelandet, ohne jegliche Schwachstelle. Alles hier drin war ebenmäßig und nirgends gab es etwas, das ihnen behilflich sein konnte. Irgendwie machte das Labyrinth selbst Medeia mehr Angst als der blutrünstige Minotaurus in seinem Inneren. Wie sollten sie sich nur in einem Bauwerk zurechtfinden, welches überall absolut identisch aussah?

Anscheinend hatte sich Theia diese Frage auch gestellt, denn sie blieb mitten in einem der Gänge stehen und wandte ihrer Schwester das Gesicht zu. „Wir müssen uns irgendwie orientieren. Wir werden uns nur verlaufen, wenn das so weitergeht. Dieser Dädalus..."

„Er ist ein Meister seines Fachs", erwiderte Medeia mit grimmigem Ausdruck. „Er wusste genau, was er tat, als er dieses Labyrinth entwarf. Obwohl er dazu gezwungen wurde, konnte er es nicht übers Herz bringen und dieses Projekt nicht perfekt sein zu lassen."

„Woher weißt du, dass er gezwungen wurde?", fragte Theia ratlos.

„Er ist geflohen", antwortete sie und erinnerte sich daran, was sie alles über den großen Baumeister gehört hatte. „Dädalus, meine ich. Er war hier an König Minos' Hof, aber er ist geflohen. Wenn Minos ihn nicht gezwungen hat, dieses Labyrinth zu bauen, dann soll mich sogleich Zeus' Donnerblitz treffen."

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt