4.1 Neró - Wasser

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In den Geschichten, die Dias über das Labyrinth von Kreta gehört hatte, wurde es als das atemberaubendste Bauwerk der Geschichte beschrieben. Mit goldenen Türmen und Wänden aus Silber. Mit den schönsten Verzierungen und Stuckleisten, die man in der Welt finden konnte.

Doch das, was er hier sah, war vielmehr der Eingang zu einem gewöhnlichen Kellergewölbe. Die Tür war aus Bronze, aber an den Ecken und Kanten hatte sich ein schmutzig brauner Überzug gebildet und die Stufen, die hinabführten, waren stellenweise gebrochen und schmutzig, wie der Rinnstein. Es war alles andere als beeindruckend und doch... und doch hatte er großen Respekt davor.

Als er und die drei anderen, mit denen man ihn zusammengesteckt hatte, ins Labyrinth gebracht worden waren, hatte Finsternis alles Licht verschluckt und der einzige Geruch, der an seine Nase gedrungen war, war modrige Erde gewesen. Jetzt, da sie die Augenbinden abgenommen und sich einen Überblick verschafft hatten, roch er gar nichts mehr. Die Luft um sie herum war klamm und feucht; jeder Stein im Boden und an der Wand war genau gleich.

Mit nichts weiter als einem Schwert und einem Schild bewaffnet, die beide ganz sicher schon bessere Tage gesehen hatten, war er vorsichtig in Begleitung der anderen drei tiefer ins Labyrinth eingedrungen. Eines der Mädchen, welches bei ihm war, ihr Name war, so meinte er sich zu erinnern, Vaia, hatte den Vorschlag gemacht, dass sie auch all die Wände absuchen sollten.

„Dädalus war ein genialer Baumeister", hatte sie gesagt. „Deswegen glaube ich nicht, dass er nur Dinge gebaut hat, die sofort für das Auge sichtbar sind. All die Statuen und Monumente, die er entworfen hat, die haben alle so unendlich viele Details, die man nur wahrnehmen kann, wenn man wirklich genau hinsieht. Wenn man die groben Umrisse vergisst und sich auf bestimmte Stellen verlässt. Ich glaube, so ist es auch hier. Irgendwo müssen versteckte Hinweise sein. Vielleicht ein Schalter. Oder eine Tür, die so nahtlos in den Stein gebaut wurde, dass sie mit dem Auge nicht zu erkennen ist."

Ihre Worte hatten Sinn ergeben, deswegen hatten sowohl Dias als auch Elara, ein wirklich kleines Mädchen, welches sich an einen viel zu großen Bogen klammerte und sich immer in seinem Schatten aufhielt, und Sotiris, ein Junge, der sich sofort damit gebrüstet hatte, dass er schon oft in den Irrgärten in Athen war und sich niemals verlaufen hatte, jeden Stein an den Wänden abgetastet. Es war eine mehr als mühselige Arbeit, doch Vaia war der Ansicht, dass sie sich irgendwann auszahlen würde.

„Ich habe gehört, König Minos hat Dädalus in seinem eigenen Labyrinth eingeschlossen, in einem Raum in der Mitte. Wenn man diesen Raum finden würde, dann könnte man vielleicht Dädalus unvollendete Werke betrachten. Vielleicht gibt es sogar eine Karte!" Sie war aufgeregt und das, obwohl sie sich noch zuvor beklagt hatte, dass man sie von ihrer Zwillingsschwester getrennt hatte.

Also hatten sie alle die Wände abgesucht; hatten jeden Stein abgetastet, auf jede Bodenplatte mit dem Fuß gedrückt, jede Fuge mit den Fingern nachgefahren und waren nicht fündig geworden.

„Das bringt doch nichts", sagte Sotiris eine halbe Ewigkeit später, aufgebracht und mürrisch. „Wir suchen bestimmt schon seit Stunden diese verdammten Steine ab! Es wäre so viel leichter, wenn wir einfach weiterziehen würden, damit ich dem Minotaurus mein Schwert in den Rachen rammen kann."

So sehr Dias seinen Tatendrang auch schätzte, so musste er auch zugeben, dass sie es mit dem Minotaurus nicht aufnehmen konnten. Er hatte die Bestie zwar noch nie von Angesicht zu Angesicht betrachten dürfen, doch alleine die Mythen, die sich um sie rankten, reichten vollkommen aus, damit er sich nicht in die Nähe dieses Ungeheuers wagen wollte. Nicht für den größten Berg aus Gold, den es auf dieser Welt gab.

„Vielleicht sollten wir eine Pause einlegen. Uns ein bisschen mehr verständigen, wie wir vorgehen wollen", sagte er. „Ich unterstütze deine These, Vaia, aber auf Dauer können wir das nicht aufrechthalten. Wir werden fahrlässig und dann etwas übersehen, da bin ich mir sicher. Wir sollten uns ausruhen. Es ist körperlich vielleicht nicht besonders anstrengend, dafür aber geistig."

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