21.1 Stagónes - Tropfen

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„Dieses Mädchen", fing Taras vorsichtig an und warf seinem Bruder einen vorsichtigen Blick zu, „erzähl mir ein bisschen von ihr. Ohne Namen."

Orion biss sich auf die Lippe, ehe er seufzte. Er mied Taras' Blick und schaute stattdessen zu Aigis, die schlafend auf dem Boden lag. „Sie ist hübsch", erwiderte er leise. „Und sie hat das wunderschönste Lachen, das ich je gehört habe. Ihre Haare sehen aus wie Sonnenstrahlen und sie hat weiche Haut. So weich, meine Finger haben gekribbelt, als ich sie das erste Mal berührt habe." In seinen Augen war der Funken einer vergangenen Erinnerung erschienen, der ihm den Glanz einer flackernden Fackel gab. „Du verstehst das wahrscheinlich nicht, aber mein Herz tut mit jedem Schlag weg, den ich nicht bei ihr bin. Ich vermisse ihren weichen Körper und ihre sanfte Art. Sie ist das liebste Mädchen der Welt."

„Sie klingt sehr besonders", sagte Taras lächelnd. Es war erstaunlich, Orion über ein Mädchen reden zu hören; bisher hatte sein Bruder nicht ein einziges Mal vor ihm das Interesse am anderen Geschlecht gezeigt. Umso glücklicher war er, dass er mit ihm darüber reden konnte. „Du musst sie wirklich gern haben."

„Ich glaube ja", murrte Orion. „Aber das ist nicht mehr wichtig."

„Hast", fing Taras an und räusperte sich. „Hast du ihr gesagt, was du fühlst?"

Sein Bruder blickte kurz auf, die Wangen in ein sanftes Rot getaucht. „Dazu bin ich nicht gekommen", murmelte er. „Ich habe ehrlich gesagt nicht gedacht, ich würde Athen verlassen müssen, bis du ausgewählt wurdest."

„Tut mir leid", erwiderte der jüngere der beiden. Ein Gefühl der Schuld überkam ihn, auch wenn er wusste, dass es nicht sein musste. Immerhin war keiner der beiden Brüder an der Situation schuld, in der sie sich befanden.

„Nicht deine Schuld", sagte Orion mit bitterer Stimme. „Aber sollte ich es zurückschaffen, dann muss ich es ihr sagen, sonst kann ich nie den Mut aufbringen."

Taras konnte sich gar nicht vorstellen, dass seinem Bruder der Mut für irgendetwas fehlte. Orion war der mutigste Junge, den er kannte. Wenn er nicht mutig genug für etwas war, wer war es dann? Er hatte es allein mit einer mechanischen Sirene aufgenommen, hatte sich dieser feuerspeienden Bestie entgegengestellt, die tödlichen Ranken erschlagen, einem bronzenen Adler den Schädel durchbohrt und sogar Phobos' Angstgang überstanden. Wenn er sowas konnte, dann war einem Mädchen zu sagen, dass er sie mochte, doch eigentlich keine große Sache.

„Du schaffst es bestimmt", sagte Taras in Ermangelung einer besseren Antwort.

Orion schnaubte und wandte den Blick noch weiter ab. Sein Nacken knackte bei der plötzlichen Bewegung, aber schien es überhaupt nicht wahrzunehmen. Der ältere Junge zog am Saum seines Hemdes und zerrte gedankenverloren an einem Faden.

Die Zeit, bis Aigis aufwachte, zog sich dahin wie dickes Harz, das aus einer aufgerissenen Baumrinde tropfte. Die Brüder schwiegen sich an, keiner der beiden bereit, das Gespräch anzubrechen, das sie unbeendet gelassen hatten.

Taras beschäftigte sich damit, mit seiner Schwertspitze in den Rillen des Steines zu kratzen. Es war nicht die angenehmste Beschäftigung, aber sie half ihm, damit er sich nicht in seinen Gedanken verlor. Die wenige Konzentration, die er benötigte, reichte aus, um nicht im Pessimismus zu ertrinken. Phobos' Worte wollten ihn nicht in Frieden lassen. Er hatte noch immer nicht herausgefunden, was der Gott damit gemeint hatte, dass seine Angst eine Waffe sein könnte. Wenn er sich fürchtete, dann schlotterten ihm die Knie und er konnte keinen klaren Gedanken fassen. Wie, bei den goldenen Früchten im Garten der Hesperiden, sollte er daraus eine Waffe schmieden?

Phobos hatte gesagt, er hätte seine Furcht akzeptiert. Aber Taras fühlte sich nicht so, als hätte er das wirklich. Sobald er daran dachte, er könnte irgendwie unter Wasser geraten, fühlte er den Angstschweiß seinen Rücken hinunterkriechen und eine eiskalte Hand legte sich um sein Herz. Schlotternd drehten sich seine Gedanken im Kreis, jagten einander wie zwei tollwütige Hunde und bissen sich um die Wette.

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