20.1 Archí - Anfang

275 30 24
                                    

„Wie wurde dieser Raum gebaut?", murmelte Vaia. Sie fuhr mit den Fingern an der Steinsäule entlang; nahm jede Winzigkeit in Augenschein, die sie entdecken konnte. Ihr Blick lag wieder dieses aufgeregte Leuchten, wie, wenn sie über Dädalus und seine Erfindungen sprach. Das verletzte Bein hielt sie in einer angewinkelten Position, sodass ihr Fuß beim Inspizieren der Umgebung nicht den Boden berühren und sie Schmerzen erleiden würde.

Sotiris sah auf. „Ist das wichtig?", erwiderte er. Im Schneidersitz hatte er es sich so gut es ging auf dem Boden gemütlich gemacht, sein Knie nur wenige fingerbreit von Dias' Gesicht entfernt. „Ich wäre viel eher daran interessiert, wie wir hier wieder rauskommen, anstatt mich mit der Architektur auseinanderzusetzen."

Vaia wandte ihm das Gesicht zu, in welchem die Kränkung deutlich zu sehen war.

Dias stützte sich mit dem Ellbogen auf.

„Es ist wichtig!", wiedersprach sie. Ihre Stimme überschlug sich fast. „Wenn wir verstehen, wie das Labyrinth gebaut wurde, dann können wir vielleicht auch verstehen, wie wir zu einem der Ausgänge finden. Bisher sind wir einfach nur von einem Gang in den nächsten gestolpert, haben etliche Räume und Gefahren hinter uns gelassen. Aber wenn ich nur eine – eine Karte oder ähnliches hätte, dann könnte ich uns vielleicht besser führen." Inmitten ihres blassen Gesichts sah es so aus, als würden ihre braunen Augen das gleiche göttliche Licht verstrahlen, welches auch aus den Linien im Boden des Raums geströmt war.

„Aber Erebos hat gesagt, es gibt keine Karte", meinte Sotiris.

„Er hat vieles gesagt", sagte Vaia und fuhr mit einem Finger langsam eine Rille im Stein der Säule nach. „Woher sollen wir wissen, dass es stimmt? Er könnte genauso gut auch gelogen haben."

„Er wirkte zumindest nicht so, als wäre er der freundlichste Geselle", stimmte Dias ihr zu. Die Schmerzen aus seinem Kopf waren nach einer erholsamen Runde Schlaf gänzlich verschwunden. Er fühlte sich zwar nicht ausgeruht und bereit, aber seine Kraftreserven waren wieder aufgetankt. „Vielleicht ist an seinen Worten etwas dran, vielleicht auch nicht. Wir können es nicht wissen."

Sotiris warf ihm einen giftigen Blick zu und Dias' Herz sank ein wenig. Hatte sich der andere Junge etwa Zuspruch von ihm erhofft und war enttäuscht, weil er ihm in den Rücken gefallen war?

„Das Labyrinth ist das größte Bauwerk dieser Zeit", fing Vaia an und klang dabei so, als würde sie aus einem Buch vorlesen, „und es wäre töricht, zu glauben, es würde keine Karte existieren. Nicht einmal Dädalus würde sich hier drin zurechtfinden. Jeder Sterbliche würde seinen Weg verlieren und sicherlich kann auch ein Gott sich nicht alles merken, was hier vonstattengeht. Irgendwo muss es doch eine Karte geben, oder wenigstens eine Aufzeichnung über die Zeit, als Dädalus es gebaut hat."

„Und wenn es wirklich keine Karte gibt?", fragte Elara leise. Alle Augen wandten sich ihr zu. „I-Ich meine ja nur, dass es auch eine Möglichkeit ist."

„Sie hat Recht", stimmte Sotiris ihr zu, blickte aber zurück zu Vaia. „Der Schlüssel, um hier rauszukommen ist nicht verstehen, sondern überleben. Wir könnten uns stundenlang alle Steine angucken und nach einem versteckten Pfad suchen – aber was bringt es uns, wenn wir dabei nicht vorankommen?" Er machte eine ausschweifende Handbewegung. „Guck dich doch allein hier mal um. Dieser Raum ist riesig! Wie lange soll es bitte dauern, ehe wir ihn 'verstanden' haben? Einen Tag? Zwei? Wir wissen doch sowieso nicht mehr, wie lange wir schon hier unten sind. Ich für meinen Teil habe nur ein Ziel." Mit einem halblauten Ächzen erhob er sich und blickte Vaia grimmig an. „Nach Hause zu gehen. Und sollte ich das schaffen, dann werde ich mich für eine ganze Weile von irgendwelchen Göttern fernhalten, die mir das Leben schwer machen wollen."

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt