22.2 Dexiá - Recht

165 27 10
                                    

„Warum seid Ihr hier?", fragte Calypso. Einen Moment später zuckte sie zusammen, als sie bemerkte, was sie gesagt hatte. „Verzeiht, ich will nicht unhöflich erscheinen!"

„Neugier ist keine Schande und Fragen sind ein kostenloses Gut", erwiderte Nemesis. Sie sprach ohne Anspannung oder Macht in der Stimme, als würde sie sich gerade mit den anderen Waschweibern des Dorfes über die neusten Ereignisse unterhalten. „Alle sieben Jahre fließen göttliche Mächte ins Labyrinth. Nicht nur die Olympier suchen diesen Ort auf, auch wir niederen Götter", sagte sie und verengte die Augen zu kleineren Schlitzen, „sind daran, unsere Teile zu holen."

„Welche Teile?", fragte Lyra vorsichtig. Wie beim Löwen zuvor war ihre Gruppe geteilt worden – Calypso und Eos auf der einen Seite, Lyra auf der anderen, zwischen ihnen das Biest.

„Die Olympier suchen Helden", sprach Nemesis. „Wir suchen Opfer." Der Blick in ihren Vogelaugen wurde gierig, als sie die Kinder besah.

Eos schluckte. Er spürte Calypsos Finger an seiner Haut und war dankbar dafür, dass sie sich an ihn hielt. Wenn sie in seiner Nähe war – so redete er sich ein – dann würde er sie besser beschützen können. Nemesis war ihm zuvor wie eine der neutralen Gottheiten im Gedächtnis geblieben. Die Geschichten, die sich um diese Verkörperung der Rache rankten, waren geprägt von Gerechtigkeit und Bestrafung der Hybris der Menschen. Sicherlich würde sie nicht ohne jeden Grund genau ihre Gruppe aufsuchen.

„Ich bin nicht ohne jeden Grund hier, Sterblicher", sagte sie, ohne ihn anzusehen.

Das Blut gefror in seinen Adern und sein Herz schlug bis an seinen Kehlkopf. Würde er nicht bereits mit dem Rücken zur Wand stehen, dann würde er noch weiter zurückweichen.

„Es ist eine Sache, wenn ihr mich als die Personifikation der Rache kennt – und es ist wahr, ja. Ich bin eine Rächerin, aber ich bin weitaus mehr als das. Ich bin der Zorn, ich bin die Gerechtigkeit und ich bin die Strafe." Nemesis' Stimme war ruhig, aber Eos konnte die unterdrückte Wut darin nur allzu gut vernehmen.

Es war, als wäre der gesamte Gang in Eis getaucht. Der Junge zitterte am gesamten Körper, jedes Härchen an seinem Körper reckte sich dem Himmel entgegen.

„W-Wir haben nichts falsch gemacht", flüsterte Calypso, auch wenn ihre Worte im Zittern ihrer Lippen untergingen.

„Ihr nicht", sagte Nemesis und Eos wollte schon erleichtert aufatmen. Doch dann wandte die Vogeldame den Kopf gänzlich zu Lyra. „Sie hingegen schon."

„Was?" Lyra stolperte zurück. Für einen Moment lockerte sie den Griff um ihren Dolch, dann festigte sie ihn wieder. „Was wollt Ihr damit sagen?"

„Glaubt nicht, ich würde nur die großen Könige der sterblichen Welt richten", antwortete Nemesis. „Wenn es in meine Angelegenheiten fällt, dann könnt ihr euch sicher sein, dass ich jeden bestrafe, der gegen meine Regeln verstößt. Kinder, Diener, Adlige, Könige – vor meinem Gericht sind sie alle gleich!" Die Federn auf Nemesis' Kopf richtete sich auf, als wären sie mit der Energie eines Gewitters geladen.

Beinahe meinte Eos, dass die Luft knisterte. Angst durchfloss seinen Körper. Hitze rann ihm durch die Glieder. Er wusste nicht, was es war, aber etwas an ihren Worten erinnerte ihn an Dionysos und gerade dieser Gedanke war es, der die Panik in seinem Kopf zu einem Sturm werden ließ.

„Welche Regeln? W-Was habe ich getan?", fragte Lyra voller Angst. Ihre Hände zitterten, ihre Lippen bebten.

Statt einer Antwort, ließ Nemesis den Apfelzweig in ihrer Hand verschwinden, ehe sie mit ihren Fingern knackte. Der Nebel, der sie zuvor eingehüllt hatte, wickelte sich um ihre Hand. Als er sich wieder verflüchtigt hatte, waren Nemesis' Finger verschwunden. An ihrer Stelle zerriss eine grauenhafte Pranke oder Kralle die Luft. Was genau es war, konnte Eos nicht sagen, aber es ließ ihm das Herz stillstehen.

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt