21.2 Stagónes - Tropfen

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Die nächste Stille, welche die kleine Gruppe einnahm, war angenehmer. Es fiel Taras leichter, seinen Gedanken nachzuhängen, als ein Gespräch anzufangen. Er hatte das Gefühl, dass Orion sowieso im Moment nicht allzu gut auf ihn zu sprechen war, deswegen wäre es sicherlich die bessere Entscheidung, fürs Erste zu schweigen.

Dieses Schweigen wurde erst gebrochen, als Orion an der nächsten Ecke auf die beiden wartete und stockte. Die von Taras gefürchtete Sackgasse, die sie durch den dunklen Gang zwingen würde, blieb ihnen allerdings erspart. Ein Raum, ähnlich dem, in dem sie auf Tyche getroffen waren, erstreckte sich vor ihnen, die Wände ein nahtloser Anschluss an das üblich herrschende Grau der Gänge. In der Mitte rankte sich eine baumstammfarbene Säule in die Decke, in welcher sie sich verwurzelte, als würde dort tatsächlich ein auf den Kopf gestellter Baum herauswachsen. Statt einer sattgrünen Krone hatte dieser Baum allerdings eine freischwebende, nebelfarbene Tischfläche, die mit einigen Sitzgelegenheiten in Form von Stühlen und Bänken bestückt war. Wie bei der Göttin des Glücks zuvor prangte ein üppiges Festmahl auf dem Tisch. Taras konnte saftige Braten und knackiges Obst erkennen, sowie eine vergoldete Schüssel, aus der das dargebotene Essen noch immer dampfte, als wäre es soeben zubereitet worden.

Das ist mir nicht geheuer", brummte Orion.

„Das sieht echt gut aus", murmelte Taras, dem das Wasser im Mund zusammenlief. Obwohl sein Proviantbeutel noch mit dem Mahl gefüllt war, welches sie von Tyche erhalten hatten, wäre es doch Verschwendung, wenn sie solch ein gut vorbereitetes Essen einfach ignorieren würden. Seine Finger zuckten unangenehm.

„Jetzt sagt mir meine Intuition, dass wir das ignorieren sollten", erwiderte sein Bruder durchdringend.

„Aber wer würde denn solch ein schönes Mahl stehen lassen?", fragte eine Frau mit sanfter Stimme und kicherte mädchenhaft.

„Was?", rief Taras erschrocken aus. Er sprang einen halben Schritt zurück.

Orion blickte ihn irritiert an. „Wir sollten weiter gehen", wiederholte er langsam. Seine Augen hatte er misstrauisch zu Schlitzen verengt und er sah verwirrt aus.

„Alles gut?", fragte Aigis vorsichtig.

Die kleine Hand, die sie an seinen Arm legte, reichte aus, damit er noch einmal zusammenzuckte. Taras blickte zu ihr. „H-Hast du das eben gesagt?"

„Was gesagt?" Sie kräuselte die Augenbrauen.

„Geht's dir nicht gut, Taras?", fragte Orion besorgt und kam einen Schritt auf seinen Bruder zu.

„Ich – Aber da hat doch gerade jemand gesprochen", antwortete er. Taras war sich nicht ganz sicher, ob er wirklich etwas gehört hatte. „Ich bin eigentlich sicher gewesen, dass jemand gesprochen hatte."

„Da war nichts", erwiderte Aigis mit sanfter, vorsichtiger Stimme, als hätte sie Sorge, Taras würde wütend werden oder durchdrehen, wenn sie etwas Falsches sagte. „Oder hast du etwas gehört?"

Orion verneinte mit einem Kopfschütteln. Er sah seinen Bruder alarmiert an.

„Sterbliche mit geringer Resonanz können meine Macht nicht wahrnehmen", sagte die Frauenstimme. Bei ihrem Klang zuckte Taras wieder zusammen. „Es ist ein simples Konzept, wirklich. Geistige Stärke hat einen so viel höheren Wert als körperliche Kraft."

„Da!", rief er panisch aus. „Da ist es schon wieder. Jemand spricht!"

„Ich höre niemanden", sagte Orion. Seine Augenbrauen näherten sich immer mehr an, sein Blick in einen trüben See aus Sorge getaucht.

„Mein süßer Sterblicher", sprach es wieder. „Dein Körper ist erschöpft. Komm, ruh dich an meinem Tisch aus. Nimm meine Speisen zu dir. Stärke dich für deine Weiterreise. Was du erlebtest, ermüdet selbst den Geist. Auch ein heldenhafter Mann kann nicht alles erbahren."

LavýrinthosWo Geschichten leben. Entdecke jetzt