Kapitel 47

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Verwirrt über diese Melodie verengte ich die Augen und verstand nicht, was es zu bedeuten hatte. An Liam zeigte sich ebenso keine Reaktion, doch als sich sein Handgriff, um mein Handy verfestigte, richtete ich meinen Blick auf ihn. Seine Augen waren plötzlich weit aufgerissen, dabei starrten sie nur auf das Gerät in seiner Hand, die sogar ein wenig zitterte. Die Brust hob und senkte sich beim ihm viel zu schnell und es schaute beinahe so aus, als ob er jeden Moment vor Wut explodieren könnte. Am liebsten hätte ich meinen Mund aufgemacht, um etwas zu sagen, was ihn beruhigen könnte und gleichzeitig wissen wollte, was mit ihm los war.

Die Musik spielte jedoch weiter und die unbekannte Person, die hinter diesem Anruf steckte, würde mich hören und das ließ ich ungern zu.

Aus diesem Grund griff ich mit meinen Händen nach seiner Freien, die zu einer Faust geballt war. Liam verkrampfte sich unter meiner Berührung und wollte anscheinend nicht zur Ruhe kommen oder es gelang ihm nicht. Ich wusste es nicht. Daher betrachtete ich ihn weiter besorgt, doch dieser würdigte mich keines Blickes, denn er nahm mich nicht einmal wahr.

"Ich weiß, dass du es bist", sagte er und seine Worte ließen mich augenblicklich inne halten.

Das Klavierspiel hörte auf und Stille herrschte in der anderen Leitung. Mein Herzschlag beschleunigte sich aus einem unerklärlichen Grund, denn mir war bewusst, wen mein Freund meinte. Es wurde nicht widersprochen. Mit seinem Schweigen bestätigte er seine Identität. Ace. Er war es. Ich konnte aber nicht verstehen, warum er nichts sagte. Wahrscheinlich hatte er nicht erwartet, dass Liam reden würde.

Mein Griff, um seine Hand lockerte sich langsam, bis ich sie endgültig losließ und mich neben der Wand abstützte, da ich sonst den Halt verloren hätte. Ein Schwindelgefühl tauchte hervor und ich fühlte mich gerade komisch. Etwas schmerzhaftes drückte immer wieder gegen meine Brust und ließ mich nur schwer atmen. Das Ace weiterhin nicht sprach, machte die Situation nicht besser. Die Befürchtung, dass selbst dieser meinen regelmäßigen Puls hörte, würde mich nicht allzu sehr überraschen. Jedoch war meine Lage jetzt nicht besonders auffallend, sondern eher seine oder besser gesagt von den beiden vor mir.

Die Jungs schafften es nämlich nicht miteinander zu reden. Zwei ehemalige beste Freunde trauten sich nicht nicht den Mund zu öffnen und schwiegen sich stattdessen an. Eigentlich hätte Ace auf Liam seine Feststellung längst etwas erwidern müssen, um ihn zu provozieren, sodass dieser vor Zorn durchdrehte, aber er tat es nicht. Überhaupt nichts passierte. Es war irgendwie eine erschreckende Stimmung, die zwischen ihnen im Augenblick vorlief.

Alles veränderte sich aber sehr schnell, als Liam auf einmal den Kopf schüttelte und verächtlich auflachte. Seine Augen funkelten vor Wut und bereiteten in mir eine Angst, die ich schon lange nicht mehr gespürt hatte und lieber nie wieder dieses Gefühl bekommen wollte. Er strahlte eine beängstigende Ausstrahlung vor mir aus, die mich davon abhielt in seine Nähe zu treten. Mein Freund verlor langsam die Kontrolle über sich selbst, was er jedoch nicht bemerkte und alles, um sich herum ausblendete. Selbst seine Freundin. Mich. Liam schaute mich kein einziges Mal an, als ob ich gar nicht in diesem Raum wäre. Sein Verstand schaltete sich aus und die Kontrolle seines Körpers überließ er seinen Gefühlen. Hass und Wut.

"Rede", verlangte er von Ace.

"Sag etwas verdammt nochmal!", brüllte er plötzlich so laut, als dieser keinen Laut von sich gab.

Ich zuckte darüber zusammen, da sein Tonfall mich erschrocken hatte und beobachtete meinen Freund durch wachsamen Augen, denn die Geduld von ihm riss immer mehr auf und fiel, wie ein Glas herunter. Die einzelnen Scherben verteilten sich, die sich in meine Haut gewaltsam bohrten und quälend zum Bluten begannen. Langsam und schmerzhaft.

"Ace!", schrie er aufgebracht seinen Namen, jedoch legte dieser auf und nur ein Piepen war zu hören.

In derselben Sekunde wurde die Tür aufgerissen und alle im Haus versammelten sich hier im Zimmer. Mit einem besorgten Ausdruck im Gesicht waren ihre Blicke auf uns gerichtet und sie fragten sich, was geschehen war. Meine Lippen trennten sich einen Spalt voneinander, um ihnen eine Antwort auf ihre unausgesprochene Frage zu geben, aber es gelang mir nicht. Meine ganze Aufmerksamkeit galt nämlich meinem Freund, der die Augen geschlossen hatte. Auf dieser Weise versuchte er sich zu beruhigen, was er jedoch nicht schaffte. Daher beobachtete ich jeden seiner Bewegungen, bis ich meine Arme, um seinen Bauch schlang und ihn auf keinen Fall losließ.

Seit Monaten hatte Liam keinen Aggressionsanfall bekommen und jetzt tauchte es wieder auf.

Ich hatte sein Handeln vorausgesehen. Er war kurz davor mit der Faust gegen die Wand einzuschlagen, aber ich reagierte schneller und ließ es nicht zu.

Durch meine Umarmung hielt ich ihn davon ab sich zu bewegen und krallte mich mit einer solchen Kraft an ihn, weil ich Angst hatte. Ich wollte nicht, dass er sich selbst verletzte. Aus diesem Grund hatte ich nicht vor ihn loszulassen und das selbst, wenn es Stunden dauern würde, bis er zur Ruhe kam. Er sollte mich endlich wahrnehmen. Nichts anderes wollte ich, außer das. Liam war, wie versteinert unter meiner Berührung, dabei konnte ich sein Herzklopfen gegen meiner Brust spüren. Innerlich betete ich und mir lief eine einsame Träne die Wange entlang.

"Ich bin bei dir", flüsterte ich so leise, sodass man mich wahrscheinlich kaum verstehen konnte.

"Hör mich endlich, bitte", hoffte ich und drückte mich fester an ihn, um meine Worte zu verstärken.

Nachdem er meine ängstliche Stimme hörte, fiel so langsam seine Anspannung ab und er brauchte erst einige Minuten, bis er seine Arme um mich legte.

Erleichtert atmete ich aus und ein trauriges Lächeln nahm anschließend den Platz an meine Lippen. Ich ließ mich wortörtlich in seine Wärme fallen, die er mir wieder ausstrahlte. Er dagegen löste sich ein wenig von mir, sodass er mich ansehen konnte. Liam nahm mein Kinn vorsichtig zwischen seine Finger, damit er mich besser betrachtete. Seine Stirn legte sich dabei in Falten und irgendwie schimmerten seine Augen mir mit Besorgnis entgegen. Die Hand entfernte er wieder und zog mich näher an sich heran, wobei seine Stirn gegen meine nun lehnte.

"Es tut mir leid", hauchte er leise.

"Es tut mir unfassbar leid", wiederholte er sich und entschuldigte sich hier für sein Verhalten.

"Liam hör auf damit", murmelte ich schließlich, denn ich wollte keine Entschuldigung von ihm hören, weil ich wusste, dass er nichts dafür tun konnte.

"Ich hätte dir wehtun können", redete dieser aber weiter und blickte mir erneut in die Augen.

"Wir wissen beide, dass du das niemals getan hättest", sprach ich die Wahrheit aus, die er verdrängte und daher nahm ich sein Gesicht zwischen meine Hände.

"Ohne dich wäre ich verloren, Aria", gestand er.

Tränen fanden den Weg aus meinen Augen und ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. Liam erwartete auch keine Antwort und küsste beide meiner Hände, um mich wieder in eine Umarmung zu ziehen. Er strich mir durch die wirren Locken und küsste meine Stirn sehr lange.

Vielleicht sagte ich gerade kein Wort, jedoch bewirkte sein Satz sehr viel in mir drinnen, denn ohne Liam wäre ich ebenfalls verloren. Dieser Junge mit den pechschwarzen Haaren und den kristallklaren Augen stahl mir nämlich mein Herz. Für ihn würde ich alles tun, sowie aufgeben. Wortwörtlich alles. Selbst, mein Leben. Nicht einmal mit der Wimper würde ich zucken oder nachdenken und dabei fiel mir erst jetzt auf, wie viel er mir eigentlich bedeutete, da ich mir kein Leben mehr ohne ihn vorstellen konnte.

Liam war meine Schwachstelle.

Der VerstandWhere stories live. Discover now