Kapitel 24

2.8K 126 13
                                    

Es war schon der nächste Tag und ich saß gedankenverloren auf meiner Sitzecke und starrte schweigend zu Liam's Fenster rüber.

Die ganze Nacht hatte ich kein einziges Auge zu bekommen und deshalb waren höchstwahrscheinlich schöne Augenringe an mir zu erkennen, doch es interessierte mich nicht wirklich. Ich war aber nicht die einzige Person, die nicht schlafen konnte, denn mein lieber Freund hatte mir Gesellschaft geleistet.

Stundenlang hatte er neben dem Fenster gesessen und mich dabei beobachtet oder er hatte immer wieder etwas auf seinem Block gezeichnet.

Nach einer Zeit war er mit dem Kopf auf der Fensterbank eingeschlafen und bei seinem Anblick schlich sich ein kleines Lächeln auf meine Lippen. Mit meinem Handy hatte ich ihn angerufen, um ihn zu wecken, jedoch hatte er nichts mitbekommen, da es bestimmt auf lautlos gestellt war. Auch, wenn es sich nicht gerade um eine bequeme Position handelte, ließ ich es schließlich, denn er brauchte seinen Schlaf.

"Konntest du auch nicht schlafen?", ertönte auf einmal die Stimme von Tante Amber, die sich neben mich setzte.

"Auch? Warum konntest du nicht schlafen?", interessierte es mich.

"Ich mache mir um Jack Sorgen", antwortete sie.

Es überraschte mich nicht wirklich, dass sie das nun sagte, denn sie war eine Mutter. Natürlich bemerkte sie, dass es ihrem Sohn schlecht ging und ich konnte mir nicht annähernd vorstellen, wie es eigentlich für sie war. Sie machte sich Sorgen um ihn und sie konnte ihm nicht helfen, obwohl sie es wollte.

Genau darin steckte ich fest.

Ich wusste, an was mein Cousin litt, aber ich konnte rein gar nichts für ihn tun.

"Was hat er denn?", fragte sie mich nun mit einem Hauch von Verzweiflung in ihrer Stimme und ihre besorgten Augen zerbrachen mir das Herz.

"Ihr erzählt euch doch immer alles. Du weißt es bestimmt", sprach sie hoffnungsvoll weiter.

"Ich kann es nicht sagen", war ich ehrlich.

Für einige Sekunden schwieg sie bis sie letztendlich nickte und mich leicht lächelnd betrachtete. Sie schaute mich so an, als ob ihr irgendeine schöne Erinnerung eingefallen wäre. Etwas, was sie glücklich machte. Ihre Hand legte sie sogar an meine Wange, dabei lief ihr eine einsame Träne aus den Augen, worauf ich sie leicht verständnislos anblickte.

"Du bist genauso wie dein Vater", meinte sie plötzlich und nahm ihre Hand wieder weg, um sich über die nasse Wange einmal zu wischen.

"Wie meinst du das?", wurde ich neugierig.

"Du sorgst dich viel zu sehr um dein Umfeld, obwohl es dir selber nicht gut geht. Du hast ein wunderschönes Herz Aria", lächelte sie mich an und ihre Worte überraschten mich.

"Ich weiß, dass mein Jack auf dich aufpasst. Pass du auch auf ihn auf, ja?", bat sie mich traurig und ich nickte nur stumm, da ich nichts rausbrachte.

"Und der da hinten sollte endlich aufstehen, sonst hat er schon Rückenschmerzen mit seinen neunzehn Jahren", grinste Tante Amber und deutete auf Liam, der weiterhin seelenruhig schlief.

"Ich wecke ihn gleich", schmunzelte ich ein wenig darüber und somit verließ sie den Raum.

"Am liebsten würde ich die Zeit zurückdrehen und mit dir die schönen Momente wieder neu erleben. Immer und immer wieder", murmelte ich bedrückt, dabei war mein Blick auf Liam gerichtet.

•••

Bevor meine Tante zur Arbeit gefahren war, hatte sie uns noch ein Frühstück vorbereitet. Es war sehr lieb von ihr und es erinnerte mich irgendwie an meine Oma, denn sie ließ uns nie ohne Essen. Der Gedanke brachte mich zum Lächeln und ich spürte innerlich die Sehnsucht nach ihr, doch ich verdrängte dieses Gefühl und blieb ruhig.

Ich hatte Levin angerufen und ihn darum gebeten, dass er seinen Bruder aufwecken sollte.

Jetzt gerade machte ich mich auf den Weg zum Wohnzimmer, wo Hope auf der einen und Daniel auf der anderen Couch eingeschlafen war.

"Leute, wacht auf", sprach ich und Hope drehte sich grummelnd weg, dabei landete sie auf dem Boden.

"Aua!", jammerte sie.

"Dani", sagte ich und warf eines der Kissen auf ihn, doch er blieb weiterhin liegen.

"Du hast mich mitten in meinem Traum geweckt!", beschwerte sich nun meine beste Freundin, die noch immer auf dem Boden saß.

"Was hast du denn geträumt?", fragte ich.

"Ja, das weiß ich nicht mehr!", regte sie sich auf.

"Könnt ihr mal leise sein? Ich will schlafen", meinte Daniel plötzlich hellwach.

"Nein, steh auf", befahl ich.

"Sag mir einen guten Grund", verlangte er müde und schloss erneut seine Augen.

"Mission Fleur steht auf unserer Liste, also bewegt euch endlich", forderte ich die beiden auf.

"Das mysteriöse Mädchen?", wollte er neugierig wissen und ich bejahte.

"Ich habe gar nicht gewusst, dass der Typ so ein dramatisches Leben hat", kam es von Hope, die wirklich erstaunt darüber ausschaute.

"Hope", ermahnte ich sie.

"Jaja, wir sind ja sozusagen Freunde mit ihm, also ist es meine Pflicht ihm zu helfen", beruhigte sie mich.

"Was für Freundschaften ich geknüpft habe", strahlte ich nun, worüber sie die Augen verdrehte.

"Das habe ich gesehen", sagte ich mit zugekniffenen Augen und sie warf mir nur einen Luftkuss zu.

"Mädchen sind komisch", murmelte Daniel daraufhin, weswegen ich ihn mit dem Kissen haute.

"Ich habe nichts gesagt", schmollte er.

"Aha", nickte ich unglaubwürdig.

"Ja?", lächelte er unschuldig, worauf ich ihn wieder damit schlug und breit grinste.

"Keine Gewalt", warnte er mich.

"Bei mir gilt diese Regel nicht", streckte ich ihm die Zunge raus und verließ das Wohnzimmer, doch davor warf ich ihm den Kissen gegen den Kopf.

"Aria!", schrie er mir hinterher.

"Hab dich auch lieb!", rief ich ihm lachend zurück.

In der Küche nahm ich mir zwei weitere Teller aus dem Regal raus, da ich Liam und Levin auch zum Frühstück rufen wollte. Das Esstisch stand direkt vor dem Fenster, der zur Straße zeigte und als ich einen Blick auf mir spürte, hob ich den Kopf.

Mein Herz blieb für einen augenblicklich stehen und die Teller glitten aus meinen Händen, sodass sie auf den Boden fielen und zerbrachen.

Mit aufgerissenen Augen schaute ich aus dem Fenster, denn am Gehweg stand eine Person und dieses Gesicht kannte ich. Direkt vor meinem Haus stand der Mann mit dem ich im Supermarkt zusammengestoßen war und der mich wahrscheinlich an der Kasse beobachtet hatte.

Er starrte mich an und diesmal handelte es sich um keine Einbildung.

Der VerstandWhere stories live. Discover now