Kapitel 2

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Vor ungefähr fünf Sekunden hatte ich noch tief und fest geschlafen, doch ein gewisser Lockenkopf hatte alles zerstört. War es normal, das man da Mordgedanken bekam? Seinen eigenen Cousin ermorden? Ich könnte damit leben, aber meine Oma würde mir das glaub ich nie verzeihen, doch Tante Amber würde versuchen mich zu verstehen und da war ich mir sogar sicher.

"Cousinchen", sagte er und tippte mir immer wieder auf die Schulter, da er sich auf die andere Bettseite gelegt hatte.

"Geh weg", murmelte ich ins Kissen und hielt weiterhin meine Augen geschlossen.

"Mir ist langweilig", erzählte er mir sein Problem.

"Dann geh zu Kyle", meinte ich.

"Er ist in Frankreich", sagte er.

"Stimmt", erinnerte ich mich.

Für eine Woche war Kyle mit seinen Eltern nach Frankreich zum Urlaub geflogen. Eigentlich wollte meine Oma auch irgendwo hin fahren, aber ich hatte abgelehnt, da es mir ohne Liam nicht Spaß machen würde. Höchstwahrscheinlich würde sie aber mit Tante Amber bald weg gehen, doch sie hatten noch immer keinen festen Reiseziel.

"Aria", riss mich Jack aus meinen Gedanken, weswegen ich mich genervt aufrichtete und ihn leicht wütend ansah.

"Was willst du?", wurde ich diesmal lauter, denn wegen ihm war ich nun hellwach.

"Nichts", grinste er und ich verdrehte die Augen, dabei bewarf ich ihn mit meinem Kissen, was er aber geschickt auffing.

Somit stand ich von meinem Bett auf und streckte mich einmal. Bevor ich ins Badezimmer ging, blieben meine Augen am Fenster hängen. Ein kleines Lächeln legte sich an meine Lippen, als ich Liam an seinem Fenster stehen sah. Er hatte eine Kaffeetasse in seiner Hand und sogar von weitem konnte ich die Farben auf seinem Oberteil erkennen. Das bedeutete, dass Liam gerade am Malen war.

Im selben Augenblick wanderten seine Augen zu mir rüber und sofort bildete sich ein leichtes Grinsen auf seinem Gesicht.

Nach wenigen Sekunden machte er eine Handbewegung, womit er mir sagte, dass ich rüber kommen sollte. Ich nickte schließlich nur und wollte endlich ins Bad gehen, doch als ich merkte, wie ich angestarrt wurde, drehte ich mich zu Jack. Fragend schaute ich ihn an, worauf er ebenfalls von meinem Bett raus stieg und sich neben mich stellte.

"Ihr beide", begann er und zeigte zuerst auf mich und danach zu Liam mit dem Finger.

"Seit wirklich zu kitschig", beendete er seinen Satz, worüber ich wieder die Augen verdrehte und mein Schlafzimmer verließ.

Vor dem Waschbecken kam ich zum Stehen und schnaubte, als ich meine Haare sah. Sie standen in allen Richtungen herab und da ich extreme Locken besaß, würde es nur schlimmer werden, wenn ich sie kämmte. Daher versuchte ich es ein wenig mit den Händen ordentlicher aussehen zu lassen, jedoch brachte es nicht viel. Aus diesem Grund machte ich mir einfach einen Dutt und somit war alles gelöst.

Nachdem ich mich auch ein wenig frisch gemacht hatte und meine Zähne geputzt waren, schlenderte ich erneut ins Zimmer. Da ich nur zu Liam rüber ging, zog ich mir eine kurze Hose und darüber einen weißen Top an, da es wirklich heiß war.

Zuletzt räumte ich noch mein Bett auf und ging anschließend die Treppen nach unten. Wahrscheinlich war Tante Amber arbeiten, Katy noch am Schlafen und meine Oma einkaufen, da sie nirgendwo zu sehen war. Daher verließ ich einfach das Haus und ging rüber zu den Blacks. Bevor ich überhaupt auf die Klingel drücken konnte, wurde mir die Haustür von Liam geöffnet, der mich direkt rein zog.

"Hast du mich so sehr vermisst?", grinste ich und dieser schlang seine Arme, um meinen Bauch.

"Und wie", hauchte er gegen meine Lippen, womit er mir näher kam.

"Ist Levin nicht da?", fragte ich und drückte ihn ein wenig von mir weg, da zu viel Nähe von ihm mich aus dem Verstand brachte.

"Arbeiten", antwortete er und ich nickte.

"Malst du noch?", wollte ich wissen und strich mit dem Finger über die getrocknete weiße Farbe auf seinem Oberteil.

"Ich mache eine kleine Pause", erklärte er und fasste zu meiner Hand, wobei er mich nach oben hinter sich her zog.

Im Kunstraum stank es sehr intensiv nach Farbe. Vor einigen Wochen hatte es mich noch gestört, doch da ich fast jeden Tag bei Liam war, hatte ich mich daran gewöhnt. Irgendwie hatte ich das Gefühl, das er zurzeit immer mehr zeichnete. Allgemein verbrachte er hier drinnen sehr viel Zeit und ich konnte ihn auch verstehen. Es verlieh im die Ruhe, die er brauchte. Das Zeichnen war seine Leidenschaft und er war unglaublich gut darin.

Schweigend setzte er sich auf seinen Stuhl und hatte vor sich einen großen Zeichenblock. Daneben war ein alter Holztisch, worauf verschiedene Pinsel und Farben lagen. Ein Lächeln zierte meine Lippen, als ich erkannte, worum es sich handelte.

Engelsflügel.

Ich sagte nichts dazu, da ich ihn nicht stören wollte. Beim Zeichnen war er nämlich immer sehr konzentriert. Es sah immer so aus, als ob er alles um sich herum ausblendete und sein Kopf nur bei der Zeichnung lag. Seine Finger hielten den Pinsel ganz leicht, dabei schaffte er solche Wunder auf einem weißen Blatt, was mich manchmal einfach nur staunen ließ. Liam war mehr als nur begabt und diese Fähigkeit sollte er nicht verstecken.

Nebenbei wanderten meine Augen zur Wand, wo meine Augen abgebildet waren. Mit langsamen Schritten näherte ich mich zur Zeichnung und betrachtete es jedes Mal gedankenverloren an, denn es war unfassbar, wie genau er es dargestellt hatte. Er hatte auf jede einzelne Kleinigkeit geachtet, was beinahe schon unmöglich ausschaute.

"Zehn Stunden", sagte plötzlich Liam, womit er mich aus meinen Gedanken riss und ich mich leicht verwirrt zu ihm umdrehte.

"Für die Zeichnung deiner Augen habe ich genau zehn Stunden gebraucht", erklärte er und ich blickte ihn mit leicht geöffnetem Mund an, da ich nicht dachte, dass er es an einem Tag gemacht hatte.

"Nachdem Tod deines Vaters hatte ich mich zwei Tage lang in dieses Zimmer eingesperrt", redete er weiter, dabei waren seine Augen auf die Wand gerichtet und ein schmerzhafter Ausdruck war auf seinem Gesicht abgebildet.

"I-Ich...war kurz vorm Durchdrehen", erzählte er.

"Liam", begann ich, da ich wusste, dass es ihm weh tat darüber zu reden, aber er war wie in einer Trance gefallen und hörte mich gar nicht.

"Als ob die Schuldgefühle nicht Strafe genug wären, sind deine Augen aus meinem Gedächtnis nie raus gegangen. Ich schloss meine Augen und blickte in deine", lächelte er ganz leicht und schaute nun mich an.

"Ich hatte es nicht mehr ausgehalten und um nicht komplett den Verstand zu verlieren, begann ich auf mehreren Blättern deine Augen zu zeichnen. Immer und immer wieder, aber es reichte nicht und am Ende...am Ende begann ich die ganze Wand anzumalen. Vielleicht klingt es verrückt, aber irgendwie waren deine Augen meine Medizin oder vielleicht auch nur meine Strafe", sagte er nachdenklich.

Eine einsame Träne lief meine Wange entlang und ein trauriges Lächeln lag an meinen Lippen. Da ich nicht so genau wusste, was ich nun sagen sollte, ging ich auf ihn zu und umarmte ihn. Er brauchte mich nämlich. Ich war nicht seine Strafe, sondern seine Medizin, sowie er meine.

Ich war seine Aria.

Der VerstandWo Geschichten leben. Entdecke jetzt